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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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notorisch Frechen. Alle
Wiederholungstäter hatten natürlich mit einer verschärften Zuwendung zu
rechnen. Manche der jüngeren Schüler waren in der Frühe oft viel zu munter und
aufgekratzt, benahmen sich unvorsichtig und mußten schon im zarten Alter ihr
Lehrgeld zahlen. Wir, die wir wegen unserer Gruppenbildung und der
bandenmäßigen Aufsässigkeit bekannt waren, paßten schon besser auf - wenn auch
nicht immer. An bestimmten Tagen reichte dem Scharfrichter lediglich, wenn ihm
jemand etwas zu auffordernd in die Augen geschaut hatte oder sich traute, durch
seine schon mehrmals beanstandete Kleidung aufzufallen - oder »immer noch nicht
beim Friseur« gewesen war. Manchmal wollten wiraber ausdrücklich, daß der Krieg
ausbrach, und wir konnten ihn jederzeit bekommen. Eine kleine gezielte
Bemerkung reichte vollkommen. Und wir wußten genau, wie der Mann - bei aller
Höflichkeit, versteht sich - am besten zu reizen war.
    - Wie
brennt's heute? sagte einer beispielsweise, um anzudeuten, daß der Mann
vielleicht doch lieber den Heizkessel kontrollieren gehen könnte.
    Nach einer
solchen Attackenbitte lief der Mann rot an, rannte los und verpaßte dem
Frechling und potentiellen Schwerverbrecher einen zentnerschweren Fußtritt in
den Arsch. Diese Strafe gehörte zum Standard, unser Hausmeister behandelte
zarte Jungs genauso wie die robusten. Er trug grundsätzlich schwere
Arbeitsschuhe, die oft mit Asche, Kohlenstaub oder anderem Dreck bedeckt waren.
Seine überfallartigen Stiefelattacken erfolgten oft impulsiv, eine verbale
Provokation war nicht immer unbedingt nötig. Alles ging blitzschnell, in den
meisten Fällen fiel bei dem ganzen Vorgang kein überflüssiges Wort. Alle
schauten stumm zu, und die Genossen Lehrer ließen den Mann jahrelang richten.
Seine Treffer schmerzten oft mehrere Tage nach.
    Seltsamerweise
habe ich an die warme Gewalttätigkeit des Herrn ERBEN, der genauso wie einer
unserer Nationaldichter hieß, ausgesprochen gute Erinnerungen. Einerseits
imponierte er mir als ein Kraftprotz, andererseits wußte ich, daß jeder von uns
ihm gegenüber doch etwas Schuld abzutragen hatte. Wir waren jung, fröhlich und
lebten nicht verlassen in einem Kellerloch. Andere Erlebnisse waren für mich in
dieser Zeit vielleicht prägender als diese Fußtritte, hatten dafür aber keine
besondere Anschubkraft. Die Fußtritte besaßen sie, und die arschblauen Flecke
zeugten davon wie amtliche Stempel. Sie haben meinen Werdegang auf keinen Fall
behindert. So gesehen habe ich an dieser Stelle keinen Grund, um meine
Vergangenheit übertriebenbesorgt zu sein. Meine Vergangenheit ekelte mich in
bestimmten Zeiten aber trotzdem unendlich an, und ich begann - punktuell
jedenfalls -, diejenigen Menschen zu verabscheuen, die ostentativ mit einem
dauerhaften Zufriedenheitslächeln herumliefen und meine Art von Ekel aus
Eigenproduktion offenbar nicht kannten.
    Mir wurde
immer wieder vorgeworfen, mich zögen ekelerregende Objekte und Vorgänge magisch
an. Es ist zugegebenermaßen nicht ganz unwahr, ich ekelte - und ekele - mich in
meinem Leben nicht nur ungern. Ich betrachtete alles Unappetitliche aber immer
schon als etwas Nützliches, beispielsweise als einen zukunftsorientierten
Lieferanten von Nährstoffen. Ich verinnerlichte den Ekel jedesmal,
zerinnerlichte und verdaute ihn ohne Rückstände, phantasierte in diesem
Zusammenhang gern über die süßen, in egal welchem Ekelbrei atomar doch bereits
vorhandenen Früchte - rote Erdbeeren, blaue Heidelbeeren oder meine geliebten
grünen Stachelbeeren. Auf diese Weise konnte ich jedes in mir abgespeicherte
Grundmaterial - nicht den Ekel als solchen - in vollkommen neutraler Form für
später retten. Meine Zukunft sollte unbedingt strahlen und duften. In den
Ferien fiel ich einmal in eine Jauchegrube. Danach begriff ich, daß man
deswegen - entgegen der festen Überzeugung einiger meiner Tanten - vor Ekel
nicht unbedingt zu sterben brauchte. Ich merkte vielmehr, daß sich jeder Dreck
problemlos abwaschen ließ.
    Ein
einschneidendes Ekelerlebnis betraf dummerweise aber auch die Sexualität. Als
ich eine Zeitlang bei der Müllabfuhr arbeitete, mußte ich Tag für Tag mit
vielen rauhen und nicht unbedingt nur nach Seife und Deos riechenden
Mitarbeitern klarkommen. Der unappetitlichste von ihnen war allerdings nicht
der schlimmste Grobian und Schweiß-stinker, sondern ein Halbidiot, der außerdem
ein sex- und religionsbesessener Fanatiker war. Seine Frau war auch etwas
intelligenzgestört,

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