Faktor, Jan
Parallelexistenz solcher
Apostelinnen mitten in unserer Gesellschaft vorzugaukeln. Die Mangelwirtschaft
präsentierte sich lieber realistisch, das heißt trostlos. In diesem Kontext
wirkte »Der Spiegel« schon äußerlich wie eine Provokation und Anklage. Ich
blätterte in meinem und Mutters »Spiegel«, tauchte in die Gemischtwarenwelt
dieses konkurrenzlosen Magazins, in dem neben Bildern von Leichen die weibliche
Vollkommenheit einen damals noch bescheidenen, aber festen Platz hatte.
Wirklich nachvollziehbar war dieses Nebeneinander für mich nicht, ich führte es
damals, glaube ich, auf die Durchsetzungskraft der Schönheit zurück. Da ich
mich ausgerechnet auf die Probleme der fraulichen Reize konzentrierte, blieb
das geplante Entziffern der Texte oft auf der Strecke. Aber immerhin - im
großen und ganzen wußte ich, wo es auf der Welt brannte, und in mir sammelten
sich Fragen, die ich meiner Mutter bei Gelegenheit - mit Vorliebe morgens unter
ihrer Bettdecke - stellen konnte.
Sie hielt
mir außerdem regelmäßig politische Vorträge - und das tatsächlich von klein
auf, noch bevor »Der Spiegel« begonnen hatte, uns zu begleiten. Sie nannte
diese kleinen Vorträge scherzhaft »politische Schulungen«. Und meine Mutter war
tatsächlich in der Lage, mir hochprofessionell die Verhältnisse in den
entlegensten Gegenden der Erde zu erklären; ob es dabei um das im Weltatlas
kaum zu findende Land Ruanda-Urundi ging - als gerade die verwickelte Teilung
dieser ehemaligen Kolonie in Ruanda und Burundi im Gange war - oder um Vietnam
mit der vor einigen Jahren eroberten, früher aber als uneinnehmbar geltenden
französischen Festung Dien Bien Phu. Den Fall von Dien Bien Phu hatte meine
Mutter als junge Journalistin vorausgesagt, besser gesagt sich vorausgewünscht
- und zwar noch lange vor dem militärisch beeindruckenden und raffinierten Sieg
der Vietnamesen. Meine Mutter war sehr stolz auf ihre Kenntnisse und ihren
Überblick, wobei siesich bei ihrer weltumspannenden Supervision - etwas
gewichtsverfälschend - besonders auf extreme Diktaturen, brutale Militärjunten
oder wegen des brutalen Mordens einsam gewordene Tyrannen konzentrierte. Über
den Völkermord an den Armeniern wußte ich seit meinen Kindertagen Bescheid, den
Lebensweg des Schlächters Idi Amin Dada verfolgten ich und meine Mutter seit
der Karriere dieses Idioten beim Militär. Der Einmarsch der
fortschrittexportierenden Chinesen in Tibet blieb in mir dank meiner Mutter
ebenfalls fest gespeichert.
Mutters
politisch-geographisches Wissen hatte allerdings gewisse Grenzen: Weil sie
seinerzeit in das Ghetto von Theresienstadt und nach Auschwitz übersiedeln
mußte, wurde sie um ihre Gymnasialzeit gebracht und ging nach dem Krieg und
einem Ruck-Zuck-Abitur direkt auf die Universität. Sie holte vieles selbständig
und gezielt nach, ihr fehlten aber trotzdem die gesamte geistesgeschichtliche
Bildung, vollständig auch alle naturwissenschaftlichen Grundkenntnisse. Und so
sehe ich meine wunderschöne Mutter bis heute vor mir: Sie steht wie eine
professionelle Vortragende mitten im Zimmer, in der Hand den »Spiegel« mit
einem breitaufgeplusterten Gesicht darauf (immer wieder dem aus Bayern) und
erzählt mir beispielsweise vom Poker um die Gründung des Staates Israel - also
über das Dilemma der Engländer, die stillen Ängste der Amerikaner und die
falschen Hoffnungen der Russen. Sie erzählt und erzählt und hat von der
kapillaren Elevation, von Bruchrechnung oder Altphilologie keinen blassen
Schimmer. Erotischer und aufregender kann politische Bildung trotzdem nicht
sein, glaube ich.
Der
vollkommen nackte Rücken der badenden Marilyn Monroe - 1962 im »Spiegel« abgedruckt
- erregte damals noch großes Aufsehen, die nachfolgenden Leserbriefe waren
voller Empörung. Ab 1962 begann man aber endlich auch auf der Titelseite
beeindruckende Frauengesichter abzudrucken - und nach und nach bauten die
Frauen ihre Präsenz auch in der Reklame immer weiter aus. Genau zum richtigen
Zeitpunkt, muß ich mit Erleichterung sagen. So reifte an meiner Seite auch »Der
Spiegel«, reifte nebenbei die gesamte Werbekultur.
Einen
Haken hatte meine Zusatzausbildung aber schon - ich war für die Schule viel zu
gut informiert. Ich wußte beispielsweise über die wirtschaftlichen und anderen
Katastrophen in der Sowjetunion Bescheid, die der Bevölkerung aller
Bruderstaaten verschwiegen worden waren. Ich erwähnte einmal das massenhafte
Abschlachten von Pferden, die unter
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