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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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wiedergefunden
und wäre dort in die mir den Weg weisenden Fußstapfen getreten.
    Meine
alltäglichen Erfahrungen sprachen ebenfalls eine klare Sprache. Wenn ich
irgendwo - ich habe es bereits angesprochen - in eine Randzone geraten war,
wurden diejenigen, die von der Allgemeinheit gehaßt wurden oder zumindest
jedermann in Erregung versetzten, umgehend zu meinen Idolen, Wunschpartnern
oder sogar Vertrauensleuten. In der Schule, in den Ferienlagern, später in den
sozialistischen Betrieben, bei den verschiedensten Zusammenkünften oder an
irgendwelchen vollgepißten Ecken war es so. Ich konnte mir nicht helfen - die
Bürgerschrecks zählten im weiten Umkreis meistens zu den einzigen interessanten
Individuen. Trotzdem beinhaltet dies nicht die ganze Wahrheit über mich - ich
mochte doch auch den tanzenden Prinzen! Die vollständige Erklärung für meine
harmoniefeindlichen Neigungen und meine Normschiefe fand ich lange nicht. Im
Grunde war ich nie wirklich einer von den von mir geliebten Bösewichten - ich
war nie ein abgründiger Gewaltanwender oder skrupelloser Selbstschädiger. Ich
war ein braver Junge, hatte gute Zensuren, grübelte ausdauernd, wenn meine
zwanghafte Privatlogik mit der schulischen oder staatlichen nicht
übereinstimmen wollte. Ich verhielt mich zu meinen Tanten und Großmüttern
liebevoll - aber auch zu Fremden, wenn sie mir gutgesinnt waren. Trotz alledem
begann ich ausgerechnet meine eigene Mutter irgendwann zu hassen - aber darauf
komme ich noch ausgiebig zurück.
    In welchem
Loch verschwindet manchmal das ganze in einem sonst vorhandene Mitleid? Wieso
schwächelt sogar auch die in einem gutausgeprägte Anlage zum Mitfühlen, nachdem
sich ihrer eine besondere Sorte innerer Schweinehunde bemächtigt hat? Natürlich
wurden meine Vorfahren und Verwandten während des Krieges ausgesprochen
schlecht behandelt, sogar außerordentlich schlecht - und sie sind teilweise
häßlich umgekommen. Und durch diese unfreundlichen Orte, in denen sie sich eine
Weile alle aufhalten mußten, wurde auch meine fast noch kindhafte Mutter
geschleust. Das alles erklärt meinen speziellen Werdegang aber wieder nicht
ganz, scheint ihm sogar punktuell zu widersprechen. Und meine Cousinen sind
trotz alledem liebe Knöspchen geworden, nur ich nicht. Auf allen Fotos aus der
Kindheit sehe ich wie ein zukünftiger Befreiungskämpfer aus. Aus mir hätte auch
ein kampferprobter irischer Held werden können, ein besessener Baske,
türkenhaßerfüllter Grieche, verbissener Urschweizer, ein zur blutigen Reinigung
entschlossener Sizilianer oder ein von der nächsten Landesteilung bedrohter
Pole. Man kennt sie alle von historischen Fotos, man kennt den für sie
typischen Gesichtsausdruck. Vielleicht bin ich ein etwas spät geborener
antirömischer Zelot, ohne es einen beachtlichen Teil meines Lebens geahnt zu
haben - oder ein im Traum initiierter Kampfkader des Herrn, dessen formeller
Auftrag für die Neuzeit von den Cherubim unterwegs verkramt worden ist. Dieser
Auftrag hätte von mir aus lauten können: die Schleifung Roms als Vergeltungsakt
für die Zerstörung des zweiten Tempels in Jerusalem des Jahres 70. Mit der
Schleifung Roms meine ich es relativ ernst. Wer beschäftigt sich heute
überhaupt mit der Frage der Verantwortung Italiens für die jüdische Diaspora?
Wieso wird wegen des Nahost-Problems dauernd die UNO bemüht und nicht die
italienische Regierung?
    Wenn ich
mir zu böse vorkam oder die Gefahr, nicht wiedergutzumachende Schuld auf mich
zu laden, abgewendet worden war, suchte ich nach weiteren vergangenen
Einflüssen, die mich in Prag eventuell noch im Griff gehabt haben konnten. Ich
wollte die Verantwortung dafür, wie ich geworden war, gern etwas breiter
gestreut sehen. Ich sammelte diese Erklärungssplitter aber nicht nur meines
inneren Friedens wegen, sondern auch, um diejenigen Moralisten der Familie -
Tante Eva beispielsweise, die Mutter meiner lieben Cousinen - vorübergehend
abzulenken, die in mir in manchen Schrecksekunden einen potentiellen Verbrecher
oder zumindest Seelenverderber sehen wollten. Wenn ich auf der Südseite unserer
Wohnung aus dem Fenster schaute, sah ich auf eine Einbahnstraße, die geschichtsträchtig
nach dem polnischen Dichter, Freiheitskämpfer und Kryptojuden Mickiewicz
benannt worden war. Mickiewicz wurde mein Patron, war in unserer Wohnung dank
des roten und aus einigen Fenstern gut sichtbaren Straßenschilds immer präsent.
Außerdem konnte ich aus den gleichen Fenstern die Büste

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