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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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der Frau unseres
Staatsgründers T. G. Masaryk sehen. Mickiewicz war ein Russenfeind, Masaryk
führte den Widerstand gegen die k.-k.-Monarchie. DieBüste seiner amerikanischen
Frau Charlotta Garrigue Masaryk war in der Mickiewiczstraße an einem der Häuser
angebracht. Sie hatte dort während des Ersten Weltkriegs gewohnt, als ihr Mann
im Exil gewesen war und Frau Garrigue bei jeglicher Kontaktaufnahme mit ihm -
dem Separatisten und Hochverräter Masaryk - die Todesstrafe gedroht hätte. Ich
sah Charlotta Garrigue Masaryk von weitem im Grunde jeden Tag, ab und an
schaute ich ihr beim Vorbeigehen auch in die Augen, wenn ich ausnahmsweise auf
die andere Seite dieser befahrenen Straße geraten war. Das Besondere und
Geheimnisvolle des Garrigue-Masaryk-Hauses war außerdem, daß es eine
interessant ausgebaute Dachgeschoßwohnung besaß - was damals in Prag etwas
Seltenes war. Die nächste Merkwürdigkeit: In der besagten Dachwohnung lebten
ausschließlich erwachsene Männer, zwei oder drei an der Zahl. In meiner
Phantasie waren es unbedingt ganz außergewöhnliche Menschen - Verschwörer,
Künstler oder Überirdische.
    Ob die
Mutter des polnischen Nationalidols Mickiewicz wirklich eine zum Katholizismus
übergetretene Jüdin war - und eventuell auch sein Vater Jude war -, wußte bei
uns zu Hause niemand mit Sicherheit, diese Pikanterie wurde aber ab und an
wenigstens angedeutet; allerdings nur vorsichtig und etwas verschämt. Man
wollte vielleicht vermeiden, daß jemand auf die Idee käme, mit dieser Information
das polnische Volk zu reizen. Bei uns standen die lieben Polen - trotz ihres
Antisemitismus - hoch im Kurs, meine Mutter konnte polnisch, kannte einige
Warschauer Literaten. So kam es, daß man über Mutters Schönheit auch dort
Bescheid wußte. Darüber hinaus hatten die Polen die Boshaftigkeit des
moskowiten Ungeheuers schon vor Jahrhunderten durchschaut, also wesentlich
früher als die traditionell slawophilen Tschechen.
    Ich sehe
auf vielen Fotos aus der Kindheit - wie gesagt - etwas seltsam aus. Ich bohre
mich mit meinen Augen festentschlossen bis feindselig in die Linse der Kamera -
mittelbar im Grunde in die Person des Fotografen; wie einer, der kurz davor
steht, den Belästiger anzuspucken oder anzuspringen. Meine Mundwinkel sind
verzogen, die Lippen fest zusammengepreßt, die Backen leicht aufgeblasen. Warum
bloß? Auf einem Foto steht meine ältere Cousine neben mir, schaut nicht den
Fotografen an, sondern ganz und gar konzentriert nur mich - und ist dabei
voller Besorgnis. Die Ärmste wirkt unglücklich, fast wie eine Mutter, die den
Sohn vor einer Tragödie bewahren möchte. In ihrem verzweifelten
Gesichtsausdruck steht einiges geschrieben, was man mir vielleicht hätte öfter
sagen müssen und was man mir manchmal sicher auch sagte. Ich lege hier meiner liebevoll
erregten Cousine eine chronologie-mißachtende Auswahl entsprechender Mahnungen
in den Mund:
    - NEIN,
NICHT, BITTE, NICHT! - spucke nicht, schlage nicht, sei lieb, Georg! Wenn ich
nur wüßte, was mit dir los ist! Dabei ist alles in bester Ordnung! Also: Baue
bitte nie wieder Bomben! Schieße auch nicht dauernd mit diesen Knallgeräten aus
hohlen Schlüsseln! Du willst doch deine beiden Augen behalten - du weißt doch,
was neulich passiert ist! Und richte auf keinen Fall spitze Gegenstände gegen
deine Nächsten. Und noch etwas - schlachte bitte keine kleinen Tiere, vor allem
auch keine unschuldigen Frösche, egal, wie häßlich sie aussehen. Du darfst nie
wieder Zahnpasta in deren Eingeweiden verrühren! Und versuche um Gottes willen
nie wieder, eine Straßenbahn in der großen Spitzkehre aus den Schienen springen
zu lassen - mit diesen Eisenkeilen aus dem Hof, ich weiß Bescheid. Und noch
etwas, und das ist das Wichtigste: Distanziere dich nie von deiner Mutter,
Georg! Richte nie ein lautes Wort an sie! Das könnte ihr Ende bedeuten.
    Wie
bereits beschrieben führte mein Weg zur Schule an einem Hunderte von Metern
langen Zaun der chinesischenBotschaft entlang. Ob breitere Schichten der Prager
Bevölkerung von den dort hängenden Durchblick-Öffnungen in den fernen Osten viel
mitbekamen, weiß ich nicht, ich und ein Teil meiner Mitschüler konnten uns
diesem Vitrinen-Unterricht aber kaum entziehen. Und wir wollten es auch nicht.
Es ging abwechselnd um alles mögliche, das für die Chinesen als erfolgreich,
schön und prächtig galt, womit sich also das große chinesische Volk und seine
Partei brüsten konnten. Die Bilder erzählten uns vor

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