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Faktotum

Faktotum

Titel: Faktotum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Bukowski
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ein? Links und rechts ist tiefes Wasser, und er braucht sich nur einmal zu verschätzen, und schon sind wir alle dran. Es war nicht zu fassen. Angenommen, er hatte sich an diesem Morgen mit seiner Frau gestritten? Oder hatte Krebs? Oder Visionen von Gott? Schlechte Zähne? Irgendwas. Er konnte es tun. Uns alle absaufen lassen. Ich wußte, wenn ich am Steuer säße, würde ich bestimmt die Möglichkeit in Betracht ziehen oder den Wunsch haben, alle Mann zu ersäufen. Und nach solchen Überlegungen verdichtet sich die Möglichkeit gelegentlich zur Tat. Für jede Jeanne d’Arc gibt es am anderen Ende der Schaukel einen Hitler als Gegengewicht. Die alte Geschichte von Gut und Böse.
    Doch keiner dieser Busfahrer kippte uns je ins Wasser. Sie dachten statt dessen an die nächste Rate für ihren Wagen, an Baseball-Ergebnisse, einen Haarschnitt, Ferien, Klistiere, Familienbesuche. In der ganzen Fuhre gab es keinen einzigen richtigen Mann. Sie lieferten mich immer wohlbehalten, wenn auch kotzelend, an meinem Arbeitsplatz ab.
    Ich wurde als etwas beschäftigt, was sie das »fünfte Rad am Wagen« nannten, d.h. ich hatte keine speziellen Aufgaben, sondern mußte alles mögliche erledigen, was so nebenbei anfiel. In dieser Position wurde von einem erwartet, daß man von selber draufkam, was zu tun war, indem man sich von einem uralten Instinkt in seinem Inneren leiten ließ. Man sollte instinktiv erahnen, was nötig war, damit der Laden reibungslos lief; der Betrieb, unsere große Mutter, hatte unzählige kleine Bedürfnisse, eines kleinkarierter und irrationaler als das andere, und alle mußten prompt befriedigt werden. Der beste Mann für so einen Job ist gesichtslos, geschlechtslos und opferbereit; er hängt bereits am Eingangstor herum, wenn der erste Mann mit den Schlüsseln ankommt. Bald danach ist er mit dem Wasserschlauch zugange und säubert den Gehsteig und begrüßt jeden ankommenden Angestellten mit seinem Namen, stets devot und mit einem strahlenden Lächeln. Das stimmt dann alle ein bißchen fröhlich, ehe die öde Maloche beginnt. Er achtet darauf, daß immer genug Toilettenpapier vorhanden ist, besonders im Weiberklo; daß die Papierkörbe nicht überquellen; daß sich auf den Fenstern keine Dreckschicht ansammelt; daß kleine Schäden an Schreibtischen und Stühlen prompt behoben werden; daß die Türen leicht zu öffnen sind; daß die Uhren genau gehen; daß vollgefressene stämmige Weibsbilder kleine Päckchen nicht selber schleppen müssen.
    Ich war nicht sehr gut. Meine Vorstellung von einem Job war immer, untätig rumzulatschen, dem Boß aus dem Weg zu gehen und den Spitzeln nicht aufzufallen, die mich beim Boß verpfeifen konnten. Nicht daß ich besonders clever war. Es war mehr Instinkt als sonstwas. Ich begann einen Job immer schon in der Gewißheit, daß ich ihn bald wieder aufstecken würde oder daß man mich feuern würde, und das gab mir eine innere Ruhe und Gelassenheit, die man fälschlicherweise für Intelligenz oder den Ausdruck geheimer Kräfte hielt.
    Der Betrieb war vollkommen autark; sie stellten die Kleider, die sie verkauften, selbst her. Der Ausstellungsraum mit den Endprodukten und Verkäufern war im Erdgeschoß, und darüber lagen die Produktionsräume: ein Gewirr von schmalen Eisentreppen und Rundläufen, auf die sich nicht einmal die Ratten hinauf trauten; lange schlauchartige Hallen, in denen Männer und Frauen mit zusammengekniffenen Augen unter 30-WattBirnen saßen, die Fußpedale ihrer Nähmaschinen betätigten, Garn einfädelten; sie hoben nie den Kopf, sprachen nie ein Wort miteinander; stumm und gebeugt hockten sie da und machten ihre Arbeit.
    In einem meiner Jobs in New York hatte ich einmal Tuchballen bei einem Betrieb wie diesem hier anliefern müssen. Ich schob meinen Handwagen durchs Verkehrsgewühl, und dann gings in eine Gasse hinter einem verrußten Gebäude. Es gab einen düsteren Aufzug mit Handbetrieb. Die Seile liefen über fleckige Holzrollen. Ein Seil für Aufwärts und eins für Abwärts. Es gab kein Licht, und während ich den Aufzug langsam nach oben pullte, spähte ich in der Dunkelheit nach den weißen Zahlen, die auf der nackten Mauer standen – 3, 7, 9, mit Kreide hingekritzelt von einer längst vermoderten Hand. Oben angelangt, arretierte ich das Seil und drückte unter Aufbietung aller meiner Kräfte die schwere alte Eisentür auf, und dann hatte ich in langen Reihen die alten jüdischen Ladies vor mir, die an ihren Nähmaschinen die zugeschnittenen

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