Falken: Roman (German Edition)
Sprache. Wenn ihn neue Nachrichten erreichen, sind sie immer schon zwei Wochen alt: Die Übermittlung ist langsam, die Gezeiten sind gegen ihn. Kaum, dass die Befestigungsarbeiten von Dover beendet sind, zerfallen die Mauern von Calais. Der Frost hat das Gemäuer aufgebrochen und einen Spalt zwischen Watergate und Lanterngate entstehen lassen.
Am Passionssonntag predigt Annes Seelsorger John Skip in der King’s Chapel. Es scheint eine Allegorie zu sein, die sich mit aller Macht gegen ihn, Thomas Cromwell, richtet. Er setzt ein breites Lächeln auf, als die Kirchgänger sie ihm erklären, Satz für Satz, ob sie ihm nun böse oder gut gesinnt sind. Er ist kein Mann, der sich von einer Predigt niederstrecken lassen oder sich von Sätzen und Ausdrücken verfolgt fühlen würde.
Einmal, als Junge, war er voller Wut auf seinen Vater Walter losgegangen, um ihm den Kopf in den Bauch zu rammen. Aber just zu der Zeit kamen die Rebellen aus Cornwall herangestürmt, und da man in Putney annahm, auf der Marschlinie zu liegen, hatte Walter Brustpanzer für sich und seine Freunde angefertigt, und als er, Cromwell, nun mit dem Kopf in ihn hineinrannte, hörte er den Schlag, noch bevor er ihn fühlte. Walter hatte probeweise einen seiner Panzer angelegt. »Das soll dir eine Lehre sein«, sagte sein Vater gleichgültig.
Er denkt oft daran zurück, an den Eisenbauch. Und er glaubt, selbst auch einen zu haben, ohne sich ein schweres, lästiges Stück Metall davorbinden zu müssen. »Cromwell hat den Magen eines Riesen«, sagen seine Freunde, genau wie seine Feinde. Damit meinen sie seinen Appetit, seinen Heißhunger: Gleich nach dem Aufwachen, oder abends vorm Schlafengehen, hat er nichts gegen ein blutiges Stück Fleisch, und selbst wenn man ihn mitten in der Nacht aufweckt, hat er Hunger.
Eine Bestandsliste aus dem Kloster Tilney kommt herein: mit Gewändern aus roter türkischer Atlasseide und weißem Batist, bestickt mit goldenen Tieren, zwei Altartüchern aus weißem Brügger Satin mit roten Samtflecken wie Blutstropfen. Und der Inhalt der Küche: Gewichte, Zangen, Feuergabeln, Fleischhaken.
Der Winter zerschmilzt zum Frühling, das Parlament geht auseinander. Der Osterfeiertag: Lamm mit Ingwersoße, Gott sei Dank kein Fisch mehr. Er erinnert sich an die bunten, von den Kindern bemalten Eier, jedes einzelne mit einem Kardinalshut. Er erinnert sich an seine Tochter Anne und wie sich ihre warme kleine Hand um die Schalen legte, sodass die Farbe zerlief: »Seht doch! Regardez! « Sie lernte Französisch in jenem Jahr. Dann ihr erstauntes Gesicht, ihre neugierige Zunge kroch heraus, um sich den Flecken aus der Hand zu lecken.
Der Kaiser ist in Rom, und es heißt, dass er sich sieben Stunden lang mit dem Papst besprochen hat. Wie lange ging es dabei um Maßnahmen gegen England? Oder hat der Kaiser ein Wort für seinen Monarchenbruder eingelegt? Es geht das Gerücht, dass es einen Vertrag zwischen dem Kaiser und den Franzosen geben wird: schlechte Nachrichten für England, wenn es tatsächlich so ist. Es ist Zeit, die Verhandlungen voranzutreiben. Er arrangiert ein Treffen zwischen Chapuys und Henry.
Aus Italien kommt ein Brief, der folgendermaßen beginnt: »Molto magnifico signor …« Er erinnert sich an Herkules, den Arbeiter.
Zwei Tage nach Ostern wird der kaiserliche Botschafter bei Hof von George Boleyn begrüßt. Als er den glitzernden George sieht, mit gleichermaßen blitzenden Zähnen und Perlmuttknöpfen, verdreht der Botschafter die Augen wie ein erschrecktes Pferd. Er ist früher schon von George empfangen worden, aber heute hat er nicht mit ihm gerechnet, eher mit einem seiner Freunde, vielleicht Carew. George begrüßt ihn langatmig in seinem eleganten, höfischen Französisch. Sie werden erfreut sein, die Messe mit Seiner Majestät erleben zu dürfen, und wenn Sie mir anschließend den Gefallen tun wollen, wird es mir ein Vergnügen sein, Ihnen um zehn beim Essen Gesellschaft zu leisten.
Chapuys sieht sich um: Cremuel, Hilfe!
Er steht lächelnd im Hintergrund und beobachtet George. Ich werde ihn vermissen, denkt er, wenn für ihn alles vorbei ist: Ich schicke ihn zurück nach Kent, wo er seine Schafe zählen und sich um die Ernte kümmern kann.
Der König selbst schenkt Chapuys ein Lächeln und ein freundliches Wort und segelt hinauf zu seinem Platz auf der Empore. Chapuys reiht sich ins Georges Gefolge ein. »Judica me, Deus«, intoniert der Priester. »Richte mich, Gott, führe meine Sache wider das
Weitere Kostenlose Bücher