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Falken: Roman (German Edition)

Falken: Roman (German Edition)

Titel: Falken: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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grüblerisch. Das kennt er. In den letzten vierzig Jahren hat er viele Bilder gesehen. Als Junge, bevor er aus England floh, waren es gespreizte Fotzen, die mit Kreide auf Wände gemalt waren, oder flachäugige Heilige, die er gähnend in der Sonntagsmesse betrachtete. Doch in Florenz gab es dann silbergesichtige Jungfrauen, von den großen Meistern gemalt, gesittet, zurückhaltend, von ihrem Schicksal erfüllt, das ihnen langsam durch die Adern rann: Ihre Augen waren nach innen gerichtet, auf Bilder des Schmerzes und der Herrlichkeit. Hat Jane solche Bilder gesehen? Ist es möglich, dass die Meister ihre Bilder nach dem Leben gemalt haben, dass sie das Gesicht einer verlobten Frau studiert haben, einer Frau, die von ihren Verwandten zur Kirchentür geführt wurde? Ob französische Haube oder Giebelhaube, es reicht nicht. Wenn Jane ihr Gesicht völlig verschleiern könnte, würde sie es tun und ihre Gedanken so vor der Welt verbergen.
    »Nun denn«, sagt er. Es ist ihm unangenehm, die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen. »Ich bin hier, weil mich der König mit einem Geschenk geschickt hat.«
    Es ist in Seide gewickelt. Jane hebt den Blick, als sie es in ihren Händen dreht. »Sie haben mir schon einmal ein Geschenk gemacht, Master Cromwell, und in jenen Tagen tat das niemand sonst. Sie können sicher sein, dass ich mich daran erinnern werde, wenn es in meiner Macht steht, Ihnen etwas Gutes zu tun.«
    Gerade rechtzeitig, um wegen dieser Worte die Stirn in Falten zu legen, ist Sir Nicholas Carew hereingekommen. Er betritt einen Raum nicht wie gewöhnliche Männer, sondern rollt herein wie eine Belagerungsmaschine, ein großartiges Katapult; und er bleibt vor Cromwell stehen und sieht aus, als wollte er ihn unter Beschuss nehmen. »Ich habe von diesen Balladen gehört«, sagt er. »Können Sie das nicht unterbinden?«
    »Das ist nichts Persönliches«, sagt er. »Das sind aufgewärmte Verleumdungen aus der Zeit, als Katherine die Königin und Anne die Schwindlerin war.«
    »Die beiden Fälle gleichen sich in keiner Weise. Diese tugendhafte Lady und jene …« Carew fehlen die Worte, und tatsächlich, ihr rechtlicher Status ist unsicher, die Anklage noch nicht formuliert. Es ist schwer, Anne zu beschreiben. Ist sie eine Verräterin, dann ist sie, je nach dem Urteil des Gerichts, praktisch tot. Obwohl sie im Tower, wie Kingston berichtet, herzhaften Appetit entwickelt und wie Tom Seymour über private Witze lacht.
    »Der König schreibt alte Lieder um«, sagt er. »Er verändert die Bezüge, nimmt eine dunkle Lady heraus und setzt eine blonde ein. Jane weiß, wie diese Dinge funktionieren. Sie war bei der alten Königin. Wenn Jane schon keine Illusionen hat, ein kleines Mädchen wie sie, sollten Sie Ihre ganz gewiss ablegen, Sir Nicholas. Sie sind zu alt für so etwas.«
    Jane sitzt reglos mit ihrem Geschenk in der Hand da, das noch immer verpackt ist. »Du darfst es auspacken, Jane«, sagt ihre Schwester liebevoll. »Was immer darin ist, es gehört dir.«
    »Ich habe dem Master Sekretär zugehört«, sagt Jane. »Man kann viel von ihm lernen.«
    »Das sind kaum angemessene Lektionen für dich«, sagt Edward Seymour.
    »Ich weiß nicht. Zehn Jahre Übung mit dem Master Sekretär, und vielleicht lerne ich, für mich selbst einzustehen.«
    »Dein glückliches Los«, sagt Edward, »ist es, Königin zu werden, keine Büroangestellte.«
    »Dann dankt ihr also Gott dafür«, sagt Jane, »dass ich als Frau geboren wurde?«
    »Jeden Tag danken wir Gott auf den Knien dafür«, sagt Tom Seymour mit bleischwerer Galanterie. Es ist neu für ihn, dass seine bescheidene Schwester Komplimente einfordert, und er weiß nicht gleich darauf zu antworten. Er sieht Bruder Edward an und zuckt mit den Schultern: Tut mir leid, besser ging’s nicht.
    Jane packt ihr Geschenk aus. Sie lässt sich die Kette, die fein ist wie ihr Haar, durch die Finger gleiten. Sie hält das winzige Buch in der Hand und dreht es. Auf dem Umschlag aus Gold und schwarzer Emaille stehen mit Rubinen die miteinander verwundenen Initialen H und A geschrieben.
    »Stören Sie sich nicht daran, die Steine können ausgetauscht werden«, sagt er schnell. Jane gibt ihm das winzige Buch. Ihr enttäuschter Ausdruck zeigt, dass sie noch nicht weiß, wie geizig ein König, dieser großartigste aller Fürsten, sein kann. Henry sollte mich gewarnt haben, denkt er. Unter Annes Initiale kann man noch das K erkennen. Er gibt das Buch Nicholas Carew. »Möchten Sie sehen?«
    Der

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