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Falken: Roman (German Edition)

Falken: Roman (German Edition)

Titel: Falken: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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Moment …«
    Riche nimmt an, er geht hinaus, um zu pinkeln. Er, Cromwell, weiß nicht, was ihn dazu gebracht hat, Weston den Rücken zu kehren und hinauszugehen. Vielleicht, weil der Junge »fünfundvierzig oder fünfzig« gesagt hat. Als gäbe es danach eine zweite Kindheit, eine neue Phase der Unschuld. Es hat ihn berührt, vielleicht der Einfachheit wegen. Vielleicht brauchte er auch nur frische Luft. Angenommen, du bist in einer Kammer, die Fenster sind versiegelt, du bist dir der Nähe anderer Körper bewusst, des schwindenden Lichts. Im Raum stehen Kisten, du spielst Spiele, schiebst dein Personal hin und her: imaginäre Körper, hart wie Elfenbein, schwarz wie Ebenholz, du schiebst sie über die Felder. Dann sagst du, ich ertrage das nicht mehr, ich muss atmen: läufst aus dem Raum hinaus in einen wilden Garten, wo die Schuldigen an den Bäumen hängen, nicht länger aus Elfenbein, nicht länger aus Ebenholz, sondern aus Fleisch, und ihre heftig jammernden Zungen erklären sterbend ihre Schuld. In dieser Sache geht die Wirkung dem Grund voraus. Was du geträumt hast, hat sich selbst inszeniert. Du greifst nach der Klinge, aber das Blut ist bereits vergossen. Die Lämmer haben sich selbst geschlachtet und gefressen. Sie haben Messer mit zu Tisch gebracht, haben sich selbst zerlegt und die eigenen Knochen abgenagt.
    Der Mai blüht sogar in den Straßen der City. Er bringt den Ladies im Tower Blumen mit. Christophe muss die Bouquets tragen. Der Junge hat die Hände voll und sieht aus wie ein geschmückter Opferbulle. Er fragt sich, was sie mit ihren Opfertieren gemacht haben, die Heiden und die Juden des Alten Testaments. Sie haben das frische Fleisch doch sicher nicht verkommen lassen, sondern es den Armen gegeben?
    Anne ist in den Räumen untergebracht, die für die Krönung neu ausgestattet wurden. Er selbst hat die Arbeiten überwacht und zugesehen, wie an den Wänden Göttinnen mit sanften, glänzenden Augen erblühten. Sie ergehen sich in sonnengetränkten Hainen, unter Zypressen. Eine weiße Taube sieht durchs Laub, Jäger brechen auf, Hunde springen bellend und jaulend voran.
    Lady Kingston steht auf, um ihn zu begrüßen, und er sagt: »Bleiben Sie sitzen, liebe Madam …« Wo ist Anne? Nicht hier in ihrem Audienzzimmer.
    »Sie betet«, sagt eine ihrer Tanten. »Also haben wir sie allein gelassen.«
    »Sie ist schon eine Weile da drin«, sagt eine andere Tante. »Sind wir sicher, dass sie keinen Mann bei sich hat?«
    Die Tanten kichern, er kichert nicht mit. Lady Kingston sieht die Frauen böse an.
    Die Königin kommt aus ihrem kleinen Oratorium, sie hat seine Stimme gehört. Sonnenlicht trifft auf ihr Gesicht. Es stimmt, was Lady Rochford sagt, sie wird faltig. Wüsste man nicht, dass sie eine Frau ist, die das Herz des Königs in Händen gehalten hat, man würde sie für eine sehr gewöhnliche Person halten. Diese forcierte Ungezwungenheit, diese geübte Schüchternheit wird sie nie verlieren. Sie wird eine der Frauen sein, die mit fünfzig noch glauben, im Spiel zu sein: eine jener müden alten Expertinnen versteckter Andeutungen, Frauen, die wie junge Mädchen lächeln, dir die Hand auf den Arm legen und mit anderen Frauen Blicke tauschen, wenn sich ein Kandidat wie Tom Seymour in ihr Blickfeld bewegt.
    Aber natürlich wird sie niemals fünfzig werden. Er fragt sich, ob er sie heute zum letzten Mal so sieht, bevor sie vor Gericht erscheint. Sie setzt sich in den Schatten, umgeben von den Frauen. Im Tower scheint es immer feucht zu sein, vom Fluss, und selbst diese neuen, hellen Räume fühlen sich klamm an. Er fragt sie, ob sie ein paar Pelze möchte, und sie sagt: »Ja. Hermelin. Und ich will diese Frauen nicht. Ich will Frauen, die ich mir selbst aussuche, nicht Ihre.«
    »Lady Kingston wartet Ihnen auf, weil …«
    »Weil sie Ihre Spionin ist.«
    »… weil sie Ihre Gastgeberin ist.«
    »Ich bin ihr Gast? Ein Gast kann gehen, wenn er es wünscht.«
    »Ich dachte, es würde Ihnen gefallen, Mistress Orchard bei sich zu haben«, sagt er, »da sie Ihre alte Kinderfrau ist. Und ich hätte nicht gedacht, dass Sie etwas gegen Ihre Tanten hätten.«
    »Sie sind voller Groll gegen mich, alle beide. Ich höre sie nur kichern und spotten.«
    »Himmel! Erwarten Sie Applaus?«
    Das ist das Problem mit den Boleyns: Sie hassen ihre eigenen Verwandten. »So werden Sie nicht mehr mit mir reden«, sagt Anne, »wenn ich wieder frei bin.«
    »Ich entschuldige mich. Ich habe geredet, ohne nachzudenken.«
    »Ich

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