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Falken: Roman (German Edition)

Falken: Roman (German Edition)

Titel: Falken: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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Nennt-Mich. »Ich lerne jeden Tag mehr, durch die bloße Nähe.«
    »Nein, er ist es selbst. Wyatt. Er lässt uns alle hinter sich. Er schreibt etwas und bestreitet es gleich wieder. Er bringt einen Vers zu Papier, steckt ihn Ihnen zu, beim Essen oder beim Gebet in der Kapelle, und auf dem Zettel für einen anderen steht der gleiche Vers, nur ein Wort ist geändert. Dann sagt dieser andere zu Ihnen, haben Sie gesehen, was Wyatt geschrieben hat? Sie sagen Ja, aber Sie reden über verschiedene Dinge. Bei nächster Gelegenheit erwischen Sie Wyatt und sagen: Haben Sie wirklich getan, was Sie in diesem Vers beschreiben?, und er lächelt und sagt: Es ist die Geschichte eines imaginären Gentleman, einer Person, die wir nicht kennen. Oder er sagt: Ich schreibe nicht meine Geschichte, sondern Ihre, auch wenn Sie sie nicht erkennen. Er sagt: Die Frau, die ich beschreibe, die dunkelhaarige, ist in Wirklichkeit eine mit hellem Haar, die sich verkleidet hat. Er wird sagen: Sie müssen alles und nichts von dem glauben, was Sie lesen. Sie deuten auf die Seite, Sie taxieren ihn: Was ist mit dieser Zeile, ist die wahr? Er sagt: Es ist die Wahrheit des Dichters. Im Übrigen, behauptet er, bin ich nicht frei zu schreiben, was ich möchte. Nicht der König, sondern das Versmaß schränkt mich ein. Ohne wäre es einfacher, sagt er. Aber ich muss den Reim beibehalten.«
    »Jemand sollte seine Verse drucken«, sagt Wriothesley, »und sie so fixieren.«
    »Dem würde er nicht zustimmen. Es sind private Äußerungen.«
    »Wenn ich Wyatt wäre«, sagt Nennt-Mich, »hätte ich dafür gesorgt, dass mich niemand missdeutet. Ich hätte mich von Caesars Frau ferngehalten.«
    »Das ist ein weiser Kurs.« Er lächelt. »Aber nicht für ihn, sondern für Leute wie Sie und mich.«
    Wenn Wyatt schreibt, befiedern sich seine Zeilen, öffnen die Flügel, tauchen unter ihre Bedeutung oder schweben darüber hinweg. Sie sagen uns, dass die Regeln der Macht und die Regeln des Krieges die gleichen sind, die Kunst besteht in der Täuschung. Und du wirst täuschen oder selbst getäuscht werden, ob du ein Botschafter oder ein Freier bist. Und wenn das Thema eines Mannes die Täuschung ist, täuschst du dich, wenn du denkst, du verstehst ihn. Du schließt die Hand, und die Bedeutung fliegt davon. Ein Statut wird geschrieben, um Bedeutung einzufangen, ein Gedicht, um ihr zu entkommen. Eine gespitzte Feder kann dem Gefieder von Engeln gleich rascheln und sich bewegen. Engel sind Botschafter. Sie sind denkende Wesen mit einem Willen. Wir wissen nicht sicher, ob ihr Gefieder wie das Gefieder von Falken, Krähen und Pfauen ist. Sie besuchen die Menschen heute kaum mehr. Obwohl er in Rom einmal einen Mann kennengelernt hat, einen Bratenwender in der päpstlichen Küche, der in einem eiskalten Durchgang auf einen getroffen war, in einem tief gelegenen Vorratsraum des Vatikans, in den Kardinäle niemals einen Fuß setzten. Und die Leute brachten ihm zu trinken, damit er davon erzählte. Er sagte, die Substanz eines Engels sei schwer und glatt wie Marmor, sein Ausdruck entrückt und mitleidslos. Die Flügel seien aus Glas geschnitten.
    Als er die Anklagen in Händen hält, sieht er gleich, dass der König daran gearbeitet hat, wenn die Schrift auch die eines Schreibers ist. Er hört die Stimme des Königs in jeder Zeile: seine Entrüstung, seine Eifersucht und seine Angst. Es genügt nicht zu sagen, dass sie Norris im Oktober 1533 zum Ehebruch mit sich verleitet hat oder Brereton im November desselben Jahres. Henry muss sich die »niederträchtigen Gespräche und Küsse, die Berührungen und Geschenke« vorstellen. Es reicht nicht, ihr Tun mit Francis Weston im Mai 1534 anzuführen oder ihr vorzuwerfen, dass sie sich im April des letzten Jahres für Mark Smeaton, einen Mann niederer Abstammung, hingelegt hat. Es ist notwendig, von der brennenden Feindseligkeit der Liebhaber gegeneinander zu sprechen, von der wütenden Eifersucht der Königin auf alle Frauen, die sie ansehen. Es reicht nicht zu sagen, dass sie mit dem eigenen Bruder gesündigt hat: Man muss sich die Küsse, Geschenke und Schmuckstücke vorstellen, die sie ausgetauscht haben, und wie sie aussahen, als sie »besagtem George die Zunge in den Mund steckte und ihn verlockte und besagter George seine Zunge in ihrem Mund hatte«. Das Geschriebene gleicht eher einem Gespräch mit Lady Rochford oder einer anderen skandalverliebten Frau als einem Dokument, das man vor Gericht trägt. Dennoch hat es seine

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