Falken: Roman (German Edition)
weiß nicht, was sich der König dabei denkt, mich hier festzuhalten. Ich nehme an, er will mich prüfen. Es ist eine List, die er sich ausgedacht hat, oder?«
Das denkt sie nicht wirklich, und so antwortet er ihr nicht.
»Ich würde gerne meinen Bruder sehen«, sagt Anne.
Eine ihrer Tanten, Lady Shelton, schaut von ihrer Näharbeit auf. »Das ist unter diesen Umständen eine törichte Bitte.«
»Wo ist mein Vater?«, sagt Anne. »Ich verstehe nicht, warum er mir nicht zu Hilfe kommt.«
»Er hat Glück, noch in Freiheit zu sein«, sagt Lady Shelton. »Erwarten Sie nichts von ihm. Thomas Boleyn denkt immer zuerst an sich. Das weiß ich, denn ich bin seine Schwester.«
Anne schenkt ihr keine Beachtung. »Und meine Bischöfe, wo sind die? Ich habe sie genährt, ich habe sie geschützt, ich habe die Sache der Religion vorangetrieben. Warum also sprechen sie nicht für mich beim König vor?«
Die andere Boleyn-Tante lacht. »Sie erwarten, dass die Bischöfe für Sie eintreten und Entschuldigungen für Ihren Ehebruch finden?«
Es ist offensichtlich, dass Anne von diesem Gericht bereits verurteilt wurde. Er sagt zu ihr: »Helfen Sie dem König. Wenn er sich nicht gnädig zeigt, ist Ihr Fall verloren. Sie können nichts für sich tun. Aber für Ihre Tochter Elizabeth können Sie etwas tun. Je demütiger Sie sich zeigen, je reumütiger Sie sich erweisen, je geduldiger Sie den Prozess ertragen, desto weniger Bitternis wird Ihre Majestät empfinden, wenn später Ihr Name genannt wird.«
»Ah, der Prozess«, sagt Anne mit einem Aufblitzen ihrer alten Schärfe. »Um was soll es da gehen?«
»Die Geständnisse der Gentlemen werden gerade zusammengetragen.«
»Die was?«, sagt Anne.
»Sie haben es gehört«, sagt Lady Shelton. »Sie werden nicht für Sie lügen.«
»Es mag noch weitere Verhaftungen geben, weitere Anklagen, obwohl, wenn Sie jetzt alles sagen, wenn Sie offen mit uns sind, könnten Sie die Pein für alle Betroffenen abkürzen. Die Gentlemen werden gemeinsam vor Gericht gebracht. Sie selbst und Mylord Ihr Bruder werden, da Sie dem Adelsstand angehören, von einer Jury aus Peers gerichtet werden.«
»Sie haben keine Zeugen. Mit was für einer Anschuldigung Sie auch kommen werden, ich kann alles in Abrede stellen.«
»Sicher«, gibt er zu. »Nur stimmt das mit den Zeugen nicht. Als Sie noch in Freiheit waren, Madam, hatten Ihre Ladies Angst vor Ihnen und waren gezwungen, für Sie zu lügen, aber jetzt fühlen sie sich ermutigt.«
»Da bin ich sicher.« Sie hält seinem Blick stand, ihr Ton ist verächtlich. »So wie die Seymour ermutigt ist. Richten Sie ihr von mir aus, dass Gott ihre Tricks beobachtet.«
Er steht auf, um zu gehen. Sie entnervt ihn, die wilde Verzweiflung, die sie, allerdings nur gerade eben so, unter Kontrolle hält. Es scheint keinen Sinn zu haben, die Sache zu verlängern. Er sagt: »Wenn der König das Verfahren zur Annullierung Ihrer Ehe einleitet, komme ich zurück, um Ihre Aussage dazu aufzunehmen.«
»Was?«, sagt sie. »Ist das nötig? Reicht es nicht, mich zu ermorden?«
Er verbeugt sich und wendet sich ab.
»Nein!« Sie hält ihn zurück. Sie ist auf den Beinen, hält ihn fest, fasst ängstlich seinen Arm: als ginge es ihr nicht so sehr um ihre Freiheit, sondern um seine gute Meinung von ihr. »Sie schenken doch diesen Anwürfen gegen mich keinen Glauben? Ich weiß, tief in Ihrem Herzen tun Sie das nicht. Cremuel?«
Es ist ein langer Augenblick. Er fühlt sich am Rande von etwas Unerwünschtem: überflüssigem Wissen, nutzlosen Informationen. Er dreht sich um, zögert, streckt zaghaft die Hand aus …
Doch da hebt sie die Hände und drückt sie sich auf die Brust, es ist genau die Geste, die Lady Rochford ihm gezeigt hat. Ah, Königin Esther, denkt er. Sie ist nicht unschuldig, sie weiß nur die Unschuldige zu spielen. Er lässt die Hand sinken, wendet sich ab. Er kennt sie als Frau ohne Reue und hält sie jeder Sünde und jedes Verbrechens für fähig. Er glaubt, sie ist die Tochter ihres Vaters, die von klein auf nichts getan hat, freiwillig oder unter Zwang, was ihre Interessen hätte schädigen können. Aber diese Geste jetzt hat ihr Schaden zugefügt.
Ihr ist nicht entgangen, wie sich sein Ausdruck verändert hat. Sie tut ein Schritt zurück und fährt sich mit den Händen an die Kehle: Wie ein Mörder umfasst sie ihr eigenes Fleisch. »Ich habe einen dünnen Hals«, sagt sie. »Es wird nur einen Moment dauern.«
Kingston eilt zu ihm, er will reden. »Das macht
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