Falkenhof 01 - Im Zeichen des Falken
Stirn. »Das verstehe ich nicht.«
»Weißt du, wie der amerikanische Unabhängigkeitskrieg begonnen hat?«
»Ja, mit den Männern, die im Hafen von Boston Teekisten von einem britischen Schiff ins Meer geworfen haben, weil sie gegen eine ungerechte Besteuerung und mangelhafte Vertretung im Parlament protestieren wollten«, sagte Tobias.
»Richtig, und niemand hat zu diesem Zeitpunkt geglaubt, dass dieser lokale Protest der Funke sein würde, der überall in den Kolonien die Fackeln der Unabhängigkeitsbewegung in Brand setzen und Amerika in einen Krieg mit England führen würde. Und auch König Ludwig hat nicht geglaubt, dass ihn eine Revolution vom Thron stürzen und auf das Schafott führen würde, als am 14. Juli 1789 in Paris die Bastille erstürmt wurde. Weißt du, was er an jenem Tag abends in sein Tagebuch notiert hat?«
»Nein, was denn?«
»Rien!« Heinrich Heller lachte trocken auf. »Nichts! Die Erstürmung der Bastille war ihm nicht mal eine Erwähnung wert! So sicher war er sich seiner absoluten Macht. Für ihn war das nur ein Aufruhr des Pöbels, mit dem er in gewohnter Weise umspringen würde. Nichts von Belang. Dabei war das der Tag, an dem die Französische Revolution begann!«
Tobias legte das Prismenglas aus der Hand. »Er hat es verdient – und Prettlach auch! Ich wünschte, seine Kutsche hätte sich gestern überschlagen und er sich das Genick gebrochen!«
Heinrich Heller schlug seine Kladde zu und stand energisch auf. »Lass den Kopf nicht hängen und den Mut nicht sinken, Tobias! Es bringt nichts, Dingen nachzutrauern, die man nicht mehr ändern kann. Hoffen wir, dass sie zäh ist und einen starken Lebenswillen hat. Der Lebenswille ist oftmals genauso entscheidend wie die beste Medizin. Und jetzt lass uns zu Jakob und Klemens gehen. In solch einer Situation, wo man selbst nichts tun kann, ist es das Beste, sich zu beschäftigen und abzulenken.«
Tobias zuckte mit den Achseln und folgte seinem Onkel hinaus auf den Hof. Die Tür zur großen Scheune, die auf Falkenhof nicht mehr zur Einbringung und Lagerung der Ernte benutzt wurde, da das Land ja verpachtet war, stand offen. Seit Wochen lagerten hier Balken und Bretter in hohen Stapeln. Jakob und Klemens hatten schon damit begonnen, die schweren Balken auf den Hof zu tragen und in der Mitte längs den Markierungen zu einem großen Quadrat mit Innenverstrebungen auszurichten.
»Wofür ist das viele Holz?«, wollte Tobias wissen.
»Wir brauchen einen soliden Startplatz für den Falken«, erklärte Heinrich Heller bereitwillig. »An seinen vier Enden werden zwölf Meter hohe Balken aufragen, damit wir den Ballon, wenn er noch nicht mit Gas gefüllt ist, entfalten und hochziehen können. Das wird mit einem System von Flaschenzügen und Seilwinden geschehen, an denen zurzeit der Mechanikus in Mainz arbeitet.«
Tobias ließ sich anhand der Pläne seines Onkels die Konstruktion des Podestes mit seinen hohen Pfosten und Seilzügen genau erklären. Es würden noch viele Tage vergehen, bis der Startplatz errichtet war.
»Du siehst, es gibt noch eine Menge Arbeit, bevor wir uns mit dem Ballon und dem Aufstieg befassen können«, schloss Heinrich Heller. »Und ich meine, es könnte nicht schaden, wenn du Jakob und Klemens nach Kräften zur Hand gehen würdest.«
Genau das tat Tobias auch. Alles war besser, als im Haus herumzuschleichen und nicht zu wissen, wie er die Zeit totschlagen sollte. Er half den beiden Männern, die Balken aus der Scheune zu schleppen. Und er griff zum Hammer, als die Verstrebungen der Bodenkonstruktion verkeilt und vernagelt waren. Hunderte von Brettern warteten darauf, auf die Balken genagelt zu werden. Verbissen leistete er seinen Beitrag. Doch mit der Ausdauer von Jakob und Klemens, die in stummer Eintracht die Arbeit verrichteten, und dem unglaublichen Gleichmaß ihrer Schläge vermochte er trotz besten Willens nicht mitzuhalten. Aber erst, wenn er den Hammer nicht mehr halten konnte und die Zahl der Nägel, die er krumm ins Holz schlug, in keinem gesunden Verhältnis mehr zu den sauberen Schlägen stand, legte er ihn aus der Hand und machte eine Pause.
Dann begab er sich zu Sadik und leistete ihm Gesellschaft. Sie sprachen jedoch nicht viel. Der Zustand des Mädchens blieb unverändert kritisch. Sadik verabreichte ihr dann und wann Narkoseschwämme. Doch jetzt halbierte er die kleinen Kugeln. »Das reicht völlig aus, um die Schmerzen auf ein erträgliches Maß zu lindern«, erklärte er ihm. »Eine ständige,
Weitere Kostenlose Bücher