Falkenhof 01 - Im Zeichen des Falken
Gondel zu stehen und auf die schlafende Welt hinunterzublicken.
Weder Tobias noch Jana hätte damit gerechnet, dass es in dieser Nacht geschehen würde. Tobias war allein mit seinem Onkel zu einer neuen persönlichen Rekordhöhe von zweihundert Metern aufgestiegen. Der wolkenlose, sternenübersäte Himmel war für astrologische Beobachtungen geradezu ideal gewesen. Und als der Ballon schließlich wieder auf dem Podest im Hof landete, glaubte er seinen Ohren nicht zu trauen, als sein Onkel Sadik und Jakob zurief: »Nein, nein, bleibt, wo ihr seid. Der Falke steigt noch ein zweites Mal auf – mit Tobias und dem Mädchen!«
»Du kommst nicht mit?«, stieß Tobias in freudiger Überraschung hervor.
»Ich glaube nicht, dass ihr mich vermissen werdet«, erwiderte Heinrich Heller schmunzelnd. »Und ich bin sicher, dass du ein gutes
Auge auf sie hältst und dich als verantwortungsvoller Luftschiffer zeigst.«
»Ganz bestimmt!«, versicherte Tobias.
Sadik hatte Einwände, sie allein aufsteigen zu lassen, doch Heinrich Heller ließ sie nicht gelten. »Papperlapapp! Der Junge weiß so viel über diesen Ballon und wie er zu handhaben ist, wie ich! Lass den beiden doch den Spaß!«
»Wie Sihdi Heinrich meinen«, maulte Sadik.
Heinrich Heller nickte nachdrücklich. »Ja. Sihdi Heinrich meint es so. Und nun rein mit dir in die Gondel!«, rief er Jana zu, die vor Überraschung und Freude gar nicht wusste, was sie sagen sollte. Schnell befreite sie sich von ihren Decken, griff nach den Krücken und humpelte über den Hof zum Startpodest. Jakob und Klemens hoben sie in die Gondel. Eine Krücke nahm sie mit hinein.
»Mein Gott, jetzt geht es wirklich gleich nach oben!«, stieß sie aufgeregt hervor, als hätte sie plötzlich Angst vor ihrer eigenen Courage.
»Bleib ganz ruhig. Es ist ganz sicher und nichts dabei, du wirst sehen«, versuchte er sie zu beruhigen.
»Du warst ja schon ein gutes Dutzend Mal hier drin!«, stöhnte sie und hielt sich so krampfhaft an einem der dicken Seile fest, wie auch Tobias es getan hatte.
»Nur ganz ruhig atmen!«, redete er ihr gut zu.
»Seid ihr bereit?«, wollte Heinrich Heller wissen.
Tobias nickte. »Es kann losgehen, Onkel!«
»Dann hoch mit ihnen!«, forderte Heinrich Heller Sadik und Jakob auf. »Aber gemächlich! Denkt an das Mädchen!«
Der Ballon erhob sich wieder in die klare Nachtluft. Ganz gemächlich schwebten sie empor, und der faszinierende Ausblick, der sich ihnen bot, ließ Jana schnell ihre Verkrampfung vergessen. Die Lichter von Falkenhof sanken in die Dunkelheit und wurden zu kleinen hellen Punkten. Dann blieb der Ballon mit einem sanften Ruck stehen. Tobias schätzte, dass sie noch unter hundert Meter Höhe waren. Es verwunderte ihn nicht, dass sein Onkel schon hier das Ende des Aufstieges bestimmt hatte. Es machte auch nichts. Denn Jana war auch so schon überwältigt von der Stille, dem mächtigen Rund des Ballons über ihnen und dem sternenübersäten Himmel, der zum Greifen nahe schien.
»Ich habe eine richtige Gänsehaut«, flüsterte sie ergriffen, »so schön ist es. Ich könnte die ganze Nacht hier oben bleiben.«
»Ja, so ein Gefühl habe ich auch immer«, erwiderte er mit ebenso leiser Stimme, als fürchtete auch er, den Zauber mit einem lauten Ton zu brechen.
»Diese Stille – wie in einer Kirche, nur noch schöner und vollkommener«, murmelte sie.
Er erinnerte sich plötzlich an Janas Tarot-Auslegung und lachte leise auf. »Weißt du noch, was du mir vor zwei Wochen aus den Karten gelesen hast?«
»Mhm«, äußerte sie nur, als wäre sie mit den Gedanken ganz woanders.
»Die dunklen Mächte? Die Ereignisse, die mein Leben verändern werden? Das Schicksalsrad? Es stimmt. Aber damit sind bestimmt diese Nächte gemeint, der Ballonflug und die Abenteuer, die noch vor mir liegen, denn bei Fesselaufstiegen wird es nicht bleiben. Wir werden weite Flüge unternehmen«, sagte er und legte in seiner Begeisterung den Arm um ihre Schulter, ohne sich dessen richtig bewusst zu werden. »Das ist es, was in den Karten stand und was das Schicksal mir zugedacht hat!«
Jana berührte kurz seine Hand. »Ja, das wünsche ich dir«, sagte sie verträumt.
Lange standen sie schweigend so an der Brüstung der Gondel und blickten hinaus in die klare, weite Nacht.
DRITTES BUCH
Zeppenfeld
April 1830
Ein Spazierstock aus Ägypten
Tobias irrte. Nicht der Ballon, sondern der nächtliche Besucher, der drei Tage später auf Falkenhof
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