Falkenhof 02 - Auf der Spur des Falken
er sich. Es gab so vieles, was er ihm schreiben wollte! Was hatten sie seit ihrer Flucht von Falkenhof nicht alles erlebt! Ja, sein Onkel konnte auf ihn und Sadik stolz sein – und natürlich auch auf Jana! Sie hatten Zeppenfeld mehr als einmal ein Schnippchen geschlagen und würden sich auch in Zukunft von ihm nicht in die Knie zwingen lassen. So wie Onkel Heinrich sich nicht vom Leben in Kerkermauern seinen Optimismus und seinen Glauben an eine bessere Zeit nehmen ließ, so würden auch sie der Gefahr trotzen und sich behaupten. Sadik hatte völlig Recht. Was waren schon zwei Jahre! Die würden sie schon überstehen – sie alle, egal mit welchen Widrigkeiten sie zu kämpfen hatten.
Und während seine Zeilen Seite um Seite bedeckten, begann sich intensiver Bratengeruch auszubreiten. Wie ein laues Lüftchen kroch er erst unter der Küchentür hervor und reizte mit feinem Duft Tobias’ Nase. Doch schon bald nahm die Intensität der Küchengerüche zu. Sie nahmen Besitz vom Gasthof und drangen unaufhaltsam weiter, bis der Duft von Gänsebraten jeden Winkel des Gasthofes, vom Dach bis zum Keller, erreicht hatte.
Tobias bemühte sich nicht daran zu denken, dass sie es gewesen waren, die für Gänsebraten mitten im Sommer gesorgt hatten. Es tat ihm Leid, dass mehrere Tiere bei ihrer nächtlichen Überrumpelungsaktion daran hatten glauben müssen.
Nachdem er seinen langen Brief fertig hatte, begab er sich nach draußen um dem starken Geruch im Haus zu entfliehen. Als Jacques sie an den Tisch bat, hätte er am liebsten abgelehnt, denn er verspürte nicht den geringsten Appetit. Doch der Gastwirt war auf seine Kochkünste, die Tobias unter anderen Umständen gewiss zu höchstem Lob und mehrmaligem Auffüllen seines Tellers veranlasst hätten, so stolz, dass er es ihm nicht antun konnte, dem Festessen fernzubleiben.
Jana erging es wohl nicht anders, denn auch sie aß nur sehr zögerlich und begründete ihre kleine Portion damit, noch immer vom Frühstück gesättigt zu sein. Sadik und Jakob dagegen mundete der Gänsebraten offensichtlich ganz ausgezeichnet und sie nahmen reichlich. Sie geizten auch nicht mit ihrem Lob für den Koch.
»Das ist die saftigste Gans, die ich je gegessen habe!«, verkündete Sadik. »Das Fleisch hat einen köstlichen Beigeschmack!«
Ja, vom Branntwein vermutlich, an dem die armen Tiere gestorben sind, dachte Tobias und stocherte in seinem Essen herum.
»Fürwahr! Da soll noch jemand sagen, Gänsebraten schmeckt nur im Winter«, sagte Jakob mit vollem Mund und griff nach einer zweiten Keule. »So einen Braten wünsche ich mir zu jedem Festtag!«
Jacques strahlte.
Tobias brachte bald keinen Bissen mehr hinunter. Übelkeit stieg in ihm auf, je länger er bei Tisch saß und mit ansehen musste, wie alle außer ihm und Jana dem Braten mit wahrer Wonne zusprachen.
»Ich – ich muss mal an die frische Luft. Entschuldigt mich bitte«, murmelte er, schob seinen Stuhl zurück und begab sich eiligst nach draußen.
Er ging in den Schatten der Scheune hinüber und wünschte im nächsten Moment, er wäre besser in der prallen Mittagssonne stehen geblieben. Denn auf dem Weg dorthin kam er am Hauklotz vorbei. Die dunklen Flecken getrockneten Blutes auf der von zahllosen Axthieben gekerbten Oberfläche und die Federn auf dem Klotz verrieten ihm auf den ersten Blick, dass Jacques die Gänse hier geköpft hatte, und einer der Köpfe war liegen geblieben.
Tobias wandte sich sofort ab. Doch das Würgen vermochte er nun nicht mehr zu unterdrücken. Jäh schoss es in ihm auf, und er lehnte sich mit einer Hand gegen die Seitenwand der Scheune, während sich sein Magen nach außen zu kehren schien und er alles erbrach, was er zu sich genommen hatte.
Zitternd wankte er zum Brunnen, schöpfte einen Eimer Wasser, spülte seinen Mund mehrmals aus und goss sich den Rest über den Kopf.
Den ekelhaften Geschmack war er losgeworden, doch noch immer hatte er den abgehackten Gänsekopf mit dem weit aufgerissenen Schnabel vor Augen.
Dieses Bild verband sich in seinem Kopf plötzlich mit dem Falkenkopf und dessen aufgerissenem Maul. Ein Schauer durchfuhr ihn, als sich Gedanken aus dem Labyrinth seines Gehirnes zu lösen begannen und aufeinander zutrieben.
Aufgerissenes Maul!
Der Falkenkopf!
Dem Räuber gierig Schlund!
Würgt aus des Rätsels Rund!
Würgen! Auswürgen!
Wo rascher Vorstoß wird gewagt!
Tobias wusste plötzlich die Lösung, die Wattendorf in seinem Gedicht versteckt hatte. Wie ein Blitz kam ihm
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