Falkenjagd
nach oben gebogene Nase.
»Aber nur, wenn du mir sofort erzählst, was mit La Mettrie los
ist!«
Heinrich ließ sich der Länge nach neben seine Schwester ins
Bett plumpsen und berichtete: »Also, er war gestern Abend zum Essen bei
dem französischen Gesandten Tyrconnel. Dabei hat er sich …«,
unterbrach er seine Geschichte, um Friederike noch gespannter zu
machen, und fuhr dann kichernd fort: »… dabei hat er sich an
der Trüffelpastete überfressen. Seine Galle machte nicht mehr mit.
Jedenfalls ist er vor einer Stunde gestorben. Ziemlich qualvoll, wie
ich von seinem gut aussehenden Kammerdiener gehört habe.«
Friederike stöhnte laut auf.
»Hast du auch Probleme mit der Galle?«
»Nicht mit meiner, aber mit der Galle im Allgemeinen. Ich
wollte, dass La Mettrie sie mir erklärt und vieles andere auch.
Verdammt noch mal, und jetzt ist er tot.«
Heinrichs Kopf fuhr zu ihr herum. So lagen die beiden
Geschwister mit nicht mehr als zehn Zentimeter Abstand zwischen ihren
Nasenspitzen beieinander und schauten sich forschend an. Eine solche
Intimität hatten sie vorher noch nie erlebt. Schon gar nicht in der
Familie. Friederike entdeckte ihr winziges, verzerrtes Spiegelbild in
seinen Augen. Ruhig und nüchtern erzählte sie ihm von ihren Studien,
den vielen Tierorganen, die sie in den vergangenen Jahren seziert und
unterm Mikroskop untersucht hatte. Auch ihre Schwierigkeiten, sich in
Schwaningen, abgeschnitten von der Welt, nur aus Büchern zu
informieren, blieben nicht unerwähnt.
»Weißt du, es macht mich manchmal ganz verrückt zu ahnen, dass
es da und dort schon wieder neue Erkenntnisse gibt – bei der
Pumpfunktion des Herzens zum Beispiel –, aber nicht genau zu
erfahren, welche.«
»Was fasziniert dich daran so?«
Heinrich wickelte eine Haarsträhne seiner Schwester um seinen
rechten Zeigefinger. Jemand, der plötzlich hereinkäme, würde meinen,
wir wären ein Liebespaar, dachte er. Obwohl er normalerweise zu Frauen
Abstand hielt, machte ihn die Nähe seiner Schwester glücklich. Wenn er
es sich recht überlegte, hatte er schon lange nicht mehr so eine
Zuneigung für jemanden empfunden. Heinrich sehnte sich nach
Freundschaft und Innigkeit. Er wollte Menschen lieben und geliebt
werden. Auch dieses Bedürfnis empfand er als Trumpfkarte gegenüber
seinem Bruder, den er hinter vorgehaltener Hand als verkrüppelten
Menschenfeind beschimpfte.
Friederike ließ sich mit ihrer Antwort Zeit. Aber auch dann
fiel ihr keine ein, die alles, was sie fühlte, ausgedrückt hätte.
»Ach, weißt du, Heinrich, ich kann dir nur sagen, dass ich es
einfach machen muss. Es ist für mich wie eine Reise in ein fernes Land,
wie die Erkundung einer unbekannten Insel. Ich möchte nicht sticken
oder Karten spielen, und wenn ich daran denke, dass ich früher im
Ansbacher Schloss stundenlang auf dem Sofa lag und an die Decke
gestarrt oder mir Klatsch angehört habe, könnte ich mir noch jetzt
Ohrfeigen geben. Schon als Mädchen in Berlin habe ich gespürt, dass ich
die Oberflächen, das Bekannte durchdringen muss. Es hat mich immer mehr
interessiert, was in einem Menschen passiert, als was er sagt. Die
Materie ist unbestechlich, rein und frei von den Manipulationen unserer
Gedanken. Dazu gehen mir unentwegt Fragen durch den Kopf. Ich kann
nicht einmal«, sie lachte ein wenig, »einen Hund auf meinem Schoß
streicheln, ohne zu überlegen, warum er so hechelt und wie seine Lungen
funktionieren. Verstehst du mich? Wenigstens ein bisschen? Oder hältst
du mich auch für verrückt?«
»Dich? Nein, ganz bestimmt nicht. Aber aufpassen musst du. Sie
beobachten dich, du bist ihnen ein Dorn im Auge. Ich muss auch immer
aufpassen. Wir werden nie das Leben führen können, das wir eigentlich
möchten.«
»Ich in meinem Versteck in Schwaningen schon, zumindest zum
Teil. Allerdings ist mein Preis die Einsamkeit.«
Traurig lächelte sie ihn an und fragte ihn dann leise: »Und du
in Rheinsberg?«
»Rheinsberg ist zwar weit von Friedrich entfernt, aber nicht
weit genug. Außerdem musste ich dafür heiraten.«
Er zog eine Grimasse, hauchte einen seiner kostbaren Ringe an
und polierte hingebungsvoll den Stein.
Bis zum späten Nachmittag blieben sie
zusammen auf dem Bett liegen. Sie ließen sich heiße Schokolade und süße
Hörnchen servieren. Später tranken sie französischen Schaumwein und
fütterten sich gegenseitig mit den ersten Erdbeeren aus den
Glashäusern. Licht und Schatten wanderten durch den Raum, sie hörten
Pantoffeln auf
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