Falkensaga 01 - Der Schrei des Falken
an. Lange Zeit standen die beiden Jungen wie Statuen nebeneinander, verloren in ihren eigenen Welten.
Gegen Abend, als die Sonne tief am Horizont stand und die Schatten der Bäume und Sträucher auf der Ebene geisterhaft verlängerte, frischte der Wind wieder auf. Die kühle Abendluft ließ die Jungen frösteln und weckte sie aus ihrer Bindung mit den Falken.
»Habt ihr etwas entdeckt?«, wollte Bardelph ungeduldig wissen.
»Viele Leute auf der Straße nach Lemrik«, berichtete Alduin, »aber nichts Verdächtiges. Sie könnte in einem der Planwagen versteckt gehalten werden, aber die Leute, die mit solchen Wagen unterwegs waren, schienen mir nur ganz normale Reisende zu sein. Jedenfalls habe ich niemanden gesehen, der mir verdächtig vorkam.«
»Wir haben nur eine Gruppe von Wunand gesehen. Niemand mit roten Haaren dabei!«, sagte Twith.
Ihr Tonfall verriet, dass beide Jungen recht enttäuscht waren, obwohl ihnen natürlich klar gewesen war, dass sie nicht sofort Erfolg haben würden. Sie riefen ihre Falken zurück, und sobald sie die beiden Vögel am Horizont auftauchen sahen, machten sie sich auf den Rückweg zur Stadt. Kurz vor der Stadtmauer landeten die Falken auf ihren Fäusten.
»Können wir noch schnell zu Malnars Haus gehen?«, fragte Alduin, als sie die Abzweigung der Gasse erreichten. »Er sagte, ich könne den Schlüssel bei der Nachbarin holen.«
Kurz darauf klopfte Alduin an die Tür des Nachbarhauses. Eine nervös wirkende Frau öffnete und starrte ihn misstrauisch an.
»Was willst du?«, fragte sie mit scharfer, unfreundlicher Stimme.
Alduin stutzte verwirrt; einen solchen Empfang hatte er nicht erwartet. »Verzeiht«, brachte er schließlich hervor, »aber Mado Malnar sagte, er würde den Schlüssel für sein Haus bei Euch hinterlegen.«
»Wie kommt der denn darauf?«, keifte die Frau wütend. »Ich will nichts mit ihm zu tun haben! Der Mensch sieht aus wie ein Geier. Jedes Mal, wenn ich den sehe, läuft's mir kalt über den Rücken!«
Sie starrte Alduin noch einen Augenblick kalt an, dann knallte sie ihm die Tür vor der Nase zu. Ihre Reaktion und ihr Verhalten waren so schockierend, dass sich Alduin nur verblüfft umdrehte und seine Begleiter ratlos anschaute.
»Vielleicht meinte er das Haus gegenüber?«, fragte Bardelph schließlich.
Doch dieses Haus war unbewohnt und niemand in den anderen Häusern wusste etwas von einem Schlüssel. Bardelph und die beiden Falkner gaben schließlich auf und machten sich auf den Rückweg zur Zitadelle. Alduin versank in tiefes Grübeln, doch er fand keine Erklärung für das, was ihm soeben widerfahren war. Malnar hatte die Sache mit dem Schlüssel so selbstverständlich vorgeschlagen, als habe er die Nachbarin schon öfters um diesen Gefallen gebeten. Der Junge wusste jetzt, dass es nicht so war. Nur: Warum hatte Malnar ihn dann belogen? Oder war er nur momentan verwirrt gewesen? Er hatte in der letzten Zeit auf ihn einen sehr müden und erschöpften Eindruck gemacht, doch bei dem Empfang gestern Abend hatte er ganz entspannt und normal gewirkt. Die Frage war also: Was ging hier vor?
Auch nachdem sie die Falken in die Käfige gesetzt und versorgt hatten, fand Alduin keine vernünftige Erklärung dafür. Bardelph versuchte ihn zu beruhigen.
»Hör mal, das ist doch nichts Wichtiges. Entweder hast du ihn missverstanden oder er hat die Sache mit dem Schlüssel einfach vergessen. Wahrscheinlich hatte er mit seinen Reisevorbereitungen mehr als genug zu tun. Er wird es dir schon erklären, wenn er wieder zurück ist.«
Alduin nickte. »Schauen wir mal, ob Gandar und Kweel ihn gesehen haben.«
Es war sehr früh und der Speisesaal war noch leer, als die drei sich an einen der langen Tische setzten; Alduin legte die Arme auf die Tischplatte und bettete den Kopf darauf. Er war unsäglich müde. Der Tag hatte ihn erschöpft, ihm sehr viel abverlangt, aber besonders bedrückte ihn, dass er noch immer keine Erklärung für das Verschwinden der Nebelsängerin gefunden hatte. Nach und nach trafen Rael, Silya und Erilea ein und schließlich auch Gandar. Wenigstens er brachte gute Nachrichten.
»Kweel hat am Abend Malnar gefunden und die Botschaft abgeliefert«, berichtete er. »Malnar hat eine Antwort geschickt - er wird gleich morgen früh nach Sanforan zurückkehren.«
Alduin war erleichtert. Zwar wusste er nicht, wie Malnar bei der Suche nach der Nebelsängerin helfen konnte, aber wenigstens würde er das Rätsel mit dem Schlüssel aufklären
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