Falkensaga 01 - Der Schrei des Falken
erwartungsvolle Hoffnung, die ihn so schnell durch die Straßen getrieben hatte, wandelte sich nun in unerträgliche Anspannung. Unfähig, auch nur eine weitere Minute stillzusitzen, sprang er auf und lief die Treppe hinab.
Nach Bardelphs Besuch hatte Aranthia lange Zeit tief in Gedanken verloren am Tisch gesessen. Als er ihr von dem Kaufmann erzählt hatte, der sich für ihre Heilsalben interessierte, spürte sie deutlich, dass ihn noch etwas anderes beschäftigte, das er ihr aber nur ungern mitteilen wollte. Sie musste es erfahren.
»Alduin ist etwas zugestoßen«, sagte sie unvermittelt. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, auf die er antworten musste.
»Nicht direkt ...«, antwortete er, als ihm klar wurde, dass er ihr nicht mehr ausweichen konnte. »Aber es gibt etwas, das mit ihm zu tun hat.«
Dann hatte er ihr alles erzählt, was seit dem vergangenen Nachmittag geschehen war.
»Und er will nicht, dass ich davon erfahre«, sagte sie und bemühte sich möglichst fest und unbeteiligt zu klingen.
»Ich bin sicher, dass er dir noch davon erzählen wird. Aber im Augenblick ist er sehr durcheinander. Er muss sich erst einmal darüber klar werden, was er tun kann.«
Sie hatte nur genickt und Bardelph lächelnd verabschiedet. Sich selbst hatte sie eingestehen müssen, dass die Nachricht ein schwerer Schlag war. Sie wusste, dass sie ihren Sohn im Stich gelassen hatte: Mit unzähligen kleinen Hinweisen hatte sie ihm immer wieder zu verstehen gegeben, dass sie sehr unsicher war über ihre Gabe, ihr zweites Gesicht. Nie hatte sie ihm das Gefühl gegeben, dass sie ihm damit in irgendeiner Hinsicht helfen könne. Zuerst hatte sie gar nicht akzeptieren wollen, dass er ihr Talent geerbt hatte, und als es dann nicht mehr zu leugnen gewesen war, hatte sie ihn einfach in die Hände von Madi Tarai und Malnar übergeben. Sie selbst war völlig nutzlos gewesen. Wenn sie nur ein bisschen mehr Mut gezeigt hätte, wäre ihr Sohn wahrscheinlich gleich zu ihr gekommen; so aber musste er sich auf andere verlassen. Doch tief im Innern spürte sie, dass sie sehr wohl in der Lage war, ihm zu helfen. Obwohl sie ihre Sehergabe nicht entwickelt hatte, wusste sie doch, dass ihre Intuition sehr fein ausgeprägt war. Jetzt erst machte sie sich klar, dass sie von Anfang an in all den Ereignissen ein bestimmtes Muster vermutet hatte. Selbst Madi Tarais Enthüllungen hatten sie nicht völlig überrascht, sondern im Grunde nur ihre eigenen Vermutungen bestätigt.
Unvermittelt stand sie auf und ging zur Kommode, wo sie den Schlüssel aufbewahrte, den ihr Malnar vor seiner Abreise an diesem Morgen in Eile übergeben hatte. Sie betrachtete ihn nachdenklich. Der Schlüssel zu Madi Tarais Haus war möglicherweise der Schlüssel zu ihrer eigenen Zukunft.
Kurz darauf betrat sie das Haus. Das Durcheinander fiel ihr kaum auf, denn sie suchte nach etwas, an das sie sich von früher her erinnerte. Endlich fand sie es: einen kleinen Wandteppich, der damals in ihrem Kinderzimmer gehangen hatte. Der Familiensage zufolge stammte er aus einer anderen Welt und war das Geschenk einer Nebelsängerin aus früheren Generationen, ein Dank für einen lang vergessenen Dienst. Vielleicht war es wirklich so. Um das Bild in der Mitte rankte sich eine dichte, fein gestickte Bordüre aus Blättern aller Arten in allen Grünschattierungen, so einladend, liebreizend und vielfältig, als wolle sie den Betrachter in ein unbekanntes Abenteuer locken. Dagegen war das Bild selbst sehr einfach: In einer Ecke begann ein schmaler Pfad, der sich über eine weite Hügellandschaft schlängelte und in der Ferne verlor. Wie oft hatte sie in ihrem Bett gelegen und sich in dieses Bild hineinversetzt, um zu sehen, wohin er führte und was jenseits des Horizonts liegen mochte. In ihrer Vorstellung hatte er sie zu tausend verschiedenen Orten geführt. Und eines Tages war es tatsächlich geschehen. Sie musste damals ungefähr in Alduins Alter gewesen sein, als sich die Tür zu ihrer Seherbegabung plötzlich öffnete; ihre Gedanken waren auf den Pfad der Visionen und Prophezeiungen geleitet worden, die ihr Leben völlig verändert hatten.
Nun hielt sie den Teppich wieder in der Hand; er war ihr vertraut und flößte ihr Zuversicht und Selbstvertrauen ein. So viel hatte sich verändert, seit sie als Kind von ihrer Familie verstoßen worden war. Inzwischen hatte sie ihrer Mutter vergeben; jetzt war sie endlich so weit, dass sie sich selbst vergeben konnte. Und ihre
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