Falkensaga 01 - Der Schrei des Falken
Sehergabe hinnehmen konnte.
Sie schob den Kleiderberg beiseite und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf die Sitzbank. Auf ihrem Schoß strich sie den Wandteppich glatt. Das Tageslicht wurde schwächer, aber es war noch immer hell genug, um klar zu sehen - und dort, wo sie hinging, würde sie ohnehin kein Licht brauchen.
15
Alduin stieg müde in sein Bett, noch bevor der letzte Schimmer des Tages am Horizont verschwunden war. Wild wirbelten die Gedanken durch seinen Kopf und ließen ihn keinen Schlaf finden. Er lauschte den Geräuschen der anderen Jungen, die hereinkamen, zu Bett gingen und einschliefen, hörte ihr gleichmäßiges Atmen und mehrstimmiges Schnarchen. Immer noch war er hellwach - unzählige Gedanken jagten einander. Er versuchte alldem einen Sinn zu geben. Vielleicht würde er sich wieder an das Lied erinnern ...? das von den goldenen Schwingen in tiefdunkler Nacht? Dann würde er endlich zur Ruhe kommen. Ganz allmählich kehrte Note für Note in sein Gedächtnis zurück, doch die Worte fielen ihm nicht mehr ein. Aber der Klang und der Fluss der Melodie passten sich Rihschas gelassenen Flügelschlägen an. Als er sich ein wenig entspannte und versuchte seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, entdeckte er, dass sein Inneres in der Lage war, in die Lüfte einzutauchen, zu fliegen und hoch hinaufzugleiten - wie ein Falke. Alle Sorgen und trüben Gedanken verflogen wie der Wind und konnten ihm nichts mehr anhaben.
... die Sonne stand im Zenit, sie brannte so heiß, dass sich die Menschen in ihre Häuser zurückgezogen und die Fensterläden geschlossen hatten ... nur wenige hielten sich noch in den Straßen der Zitadelle auf ... der Falke liebte die warmen Strahlen auf seinem Gefieder ... er flog hoch über der Stadt ... mit scharfem Blick suchte er nach einem Zeichen, nach etwas Ungewöhnlichem ... dann zog er seine Kreise - weiter und weiter bis über die Stadtmauer ... die Runden wurden enger, bis er wieder zu dem kleinen Garten gelangte, von dem er aufgestiegen war ... etwas bannte seinen Blick ... etwas hatte sich verändert ... dort, ein eckiger schwarzer Schatten auf der Erde ... wo doch um diese Tageszeit nichts einen Schatten werfen konnte ... er legte die Flügel eng an und setzte zum Sturzflug an, doch in diesem Augenblick verschwand der Schatten plötzlich ...
Als Alduin sich am nächsten Morgen mit seinen Freunden traf, schilderte er seinen langen und intensiven Traum, der ihn in ein Sanforan längst vergangener Zeiten entführt hatte. Doch der Moment, in dem der Falke im Flug das Ungewöhnliche erspäht hatte, haftete unauslöschlich in seinem Gedächtnis. Er wusste, dass das ein Zeichen gewesen sein musste, das sie vielleicht weiterbringen konnte.
»Ich meine, wir sollten den Garten einmal gründlich durchsuchen, vielleicht finden wir eine Erklärung für die dunkle Stelle«, sagte Alduin nachdenklich. »Der Falke flog sehr hoch, als er sie bemerkte, und sobald er zum Sturzflug ansetzte, verschwand sie plötzlich.«
»Na gut, schaden kann es nicht«, meinte Twith. »Wir können trotzdem mal unsere Falken losschicken und uns in regelmäßigen Abständen mit ihnen verbinden.«
»Also los!«
Alduin, Rael, Gandar und Twith hatten die Erlaubnis erhalten, sich diskret an der Suche zu beteiligen und waren deshalb von den allgemeinen Übungen befreit. Die Wunand-Amazonen hatten jedoch ihre Lehrerinnen nicht darum gebeten, denn die Freunde waren der Meinung, dass das nur unnötiges Aufsehen erregt hätte. In der Stadt war es glücklicherweise noch nicht bekannt, dass die Nebelsängerin verschwunden war, und je länger das so blieb, desto besser.
»Wir treffen uns zur sechsten Glocke im Bogenschützenhof«, schlug Alduin vor und wandte sich an die beiden Wunand- Mädchen. »Vielleicht haben wir bis dahin gute Nachrichten für euch.«
Die Erde roch nach Herbst, obwohl die hell strahlende Sonne und die warme Brise Aranthia vorgaukelten, es sei Frühling. Der wohlvertraute Pfad, den sie schon so oft beschritten hatte, führte über Hügel und durch Täler, bis er am Horizont verschwand. Jedes Mal, wenn sie ihn entlangging, hatte er sie an ein neues Ziel geführt.
Sie fühlte sich in ihre Kindheit zurückversetzt. Sie rannte, wirbelte herum, sprang und hüpfte. Sie streckte die Arme aus und sie wurden zu anmutigen Flügeln, die sie schon beim leichtesten Windhauch in die Höhe trugen. Sie landete sanft auf den Füßen, lief behände über eine Hügelkuppe und tanzte
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