Falkensaga 01 - Der Schrei des Falken
Geist ... du bist ein junges Mädchen«, rief Aranthia überrascht.
»Mein Geist ist ein junges Mädchen«, erklärte Tarai. »Mein Geist ist Unschuld, Freude, Schönheit und Staunen. Ich bin wieder das Kind, das ich einst war, bevor die Furcht in mein Leben trat. Ich bin das Kind der Freiheit und der unbegrenzten Möglichkeiten. Ich bin ganz einfach ich!«
»Bin ich hierhergekommen, um das von dir zu erfahren?«, fragte Aranthia, obwohl sie die Antwort bereits ahnte.
»Ja. Darum, und damit du von mir erfährst, dass du auch so bist. Dass wir alle so sind.«
Sie griff nach Aranthias Hand und zog sie mit sich zur Hügelkuppe hinauf. Auf der anderen Seite lag eine Welt von solcher Schönheit, dass Aranthia der Atem stockte und sich ihr Herz hinaufschwang wie ein wilder Falke. Die Welt war nicht mit Worten zu beschreiben, denn Worte hätten das, was vor ihren Augen weiterwuchs und sich ständig veränderte, gefangen genommen und eingefroren. Sie wollte alldem völlige Freiheit lassen, damit sie mit ihren Gedanken fliegen und mit dem Lied tanzen konnte, zu dem sie geworden war.
»Tanze mit mir, tanze mit mir«, flüsterte Tarai.
Konnte man es einen Tanz nennen? Aranthia fühlte sich wie ein Sonnenstrahl, wie ein Samenkorn, das plötzlich keimte und einen Schössling an das Licht ließ, wie die Düfte Unzähliger Jahreszeiten, die entstehen und wachsen und sich wie fröhlich spielende Kinder im ewigen Kreis durch Raum und Zeit drehen.
Allmählich endete der Tanz. Sie legten sich auf den Rücken in das weiche Gras und blickten zum Himmel empor, wo Wolken, Sterne, Monde, Regenbogen und Galaxien vor einem dunkelvioletten Himmel dahinglitten.
»Du kannst jetzt gehen«, sagte Tarai nach einer Weile.
»Ich weiß«, antwortete Aranthia, »aber - lass mich noch ein wenig hier bleiben!«
»Du kannst hier bleiben, solange du willst, es spielt hier keine Rolle. Du gehst, wenn du bereit bist.«
»Bin ich bereit?«
»Wir sind immer bereit, weil wir immer sind .«
»Wir sind ?«
»Ja, denn wir sind immer das Kind, das Schönheit ist, Unschuld, Freude und Staunen. Wir vergessen es immer wieder, aber das ändert nichts an der Tatsache, was wir sind. Wir müssen uns nur daran erinnern ...«
»Erinnern ... erinnern ... erinnern ...«
Aranthia schlug die Augen auf. Sie saß zusammengesunken auf Madi Tarais Sitzbank. Draußen färbte die aufgehende Sonne den Himmel mit kräftigen purpurroten Farben. Sie atmete tief ein und aus, ließ sich ganz vom Gefühl der Dankbarkeit durchdringen, bis es jede Ader und jede Zelle ihres Körpers füllte und aus jeder Pore auszuströmen schien. Mit nachdenklichen Bewegungen legte sie den Wandteppich beiseite, streckte sich und stand auf. Sie gähnte ausgiebig, fühlte sich schwach und müde von der einzigartigen Erfahrung, die sie hatte erleben dürfen. Die Welt, in der sie jetzt wieder war, war eine Welt der Grenzen, der Furcht und der Gefahr. In dieser Welt brauchte ihr Körper Schlaf und Ruhe. Aber die Erfahrung hatte das Bewusstsein des Wissens zurückgebracht und die Gabe der Erinnerung.
Nach dem Frühstück holten die Jungen die Falken aus den Käfigen - mit Ausnahme von Sivella, die noch auf dem Rückweg aus dem Norden war - und machten sich auf den Weg zu dem Garten, den Alduin in seinem Traum gesehen hatte, derselbe Garten, in dem er mit der Nebelsängerin gesprochen hatte. Den Vögeln schien bewusst zu sein, wie dringend der Auftrag ihrer Gefährten war; sie begannen sofort über der Stadt zu kreisen und flogen den halben Vormittag über den Dächern hin und her, bevor sie in immer größeren Kreisen über die Stadtmauern hinwegzogen und in der Umgebung zu suchen begannen. Die jungen Falkner verbanden sich immer wieder mit ihnen und durchsuchten in der Zwischenzeit jeden Winkel des Gartens nach irgendetwas Ungewöhnlichem. Gegen Mittag setzten sie sich enttäuscht auf die Bank.
»Unser Problem ist, dass wir eigentlich nicht wissen, wonach wir suchen«, beklagte sich Twith, nachdem er Alduin zum dritten Mal nach Einzelheiten ausgefragt hatte. »Was hast du denn nun genau in deinem Traum gesehen?«
»Ich weiß nicht, ob es so wichtig ist, was ich gesehen habe«, seufzte Alduin. »Der Falke flog sehr hoch und ich konnte die Einzelheiten nur sehr unklar erkennen. Ich glaube - wichtig ist nur der Garten!«
»Vielleicht ist das alles reine Zeitverschwendung«, warf Gandar zögernd ein. »Ich will nicht anzweifeln, was du sagst, Alduin«, fügte er schnell hinzu, »aber
Weitere Kostenlose Bücher