Falkensaga 01 - Der Schrei des Falken
ihm völlig gleichgültig, dass seine Abneigung wahrscheinlich klar in seinem Gesicht geschrieben stand.
»Was hast du eigentlich hier zu suchen?«, fragte Lotan mit gemeiner Stimme. »Hattest wohl vor, mit den Falken etwas anzustellen?«
»Was?! Ich würde nie ... Ich muss mit Meister Calborth reden. Ich dachte, er sei hier.«
»Das sagst du so, aber ich bezweifle es. Der Meister liegt natürlich längst im Bett, wie du ganz genau weißt, und du solltest ebenfalls im Bett liegen. Geh sofort zurück oder ich melde dich!«
Alduin wirbelte herum und rannte aus der Halle, aber nicht ohne ein letztes Wort. »Wenn den Falken irgendetwas geschieht, weiß ich, dass Ihr es wart!«
Alduin hatte keine leere Drohung ausgestoßen. Deshalb beabsichtigte er auch nicht sofort in den Schlafsaal zurückzukehren und versteckte sich im Schatten des Torbogens, der zum Speisesaal führte. Das Licht in der Bruthalle wurde sehr bald gelöscht; Lotan trat aus der Tür und zog sie fest hinter sich zu. Alduin hielt den Atem an und hoffte, dass der Lehrer nicht durch den Torbogen kommen würde. Er fiel vor Erleichterung fast in Ohnmacht, als sich Lotan abwandte und in die entgegengesetzte Richtung davonging. Er ließ sich an der Wand herabgleiten, zog die Beine hoch und legte den Kopf auf die Knie. Tief atmend wartete er, bis sich sein Herzschlag wieder beruhigt hatte. Ein paar Minuten dauerte es, dann begann er zu zittern. Wenn er hier noch länger sitzen blieb, würde er sich wohl erkälten. Er musste Geduld haben bis zum Morgen, wenn er mit Calborth sprechen wollte. Und er musste einfach darauf vertrauen, dass ihm der Falkenmeister glauben würde. Denn der Traum war mehr als nur bloße Einbildung gewesen. Und dann ... ja, was dann?, fragte er sich. Müde rappelte er sich hoch und schleppte sich völlig empfindungslos in den Schlafsaal zurück. Dieses Mal fiel er sofort in einen tiefen Schlaf.
Der Morgen hatte kaum zu dämmern begonnen, als Alduin wieder in der Bruthalle auftauchte. Erleichtert entdeckte er den Falkenmeister und stellte fest, dass keinem der Vögel etwas fehlte.
»Du bist heute früh auf, Alduin. Stimmt etwas nicht?«
Alduin hatte bereits beschlossen ihm nicht zu erzählen, dass er Lotan so spät in der Nacht in der Bruthalle überrascht hatte. Ziemlich unwahrscheinlich, dass Calborth seinen Verdacht gegen Lotan teilen würde, schließlich konnte er nicht beweisen, dass der Lehrer irgendwelche bösartigen Absichten verfolgt hatte. Aber ihm war klar, dass er dem Falkenmeister von seinem seltsamen Traum erzählen musste.
»Meister, ich ... ich hatte einen Traum ... von meiner Mutter und er schien mir so echt, dass ich etwas unternehmen muss!«
Calborth sagte nichts, sondern wartete nur, dass der Junge fortfuhr.
»Es war ein Sturm. Ich glaube, er hat im Westen eine riesige Überschwemmung verursacht. Ganze Bauernhöfe stehen unter Wasser und sind zerstört. Die Menschen brauchen Hilfe.«
»Und deine Mutter?«
»Ich bin sicher, dass ich sie auf einem Hügel gesehen habe, zusammen mit einer ganzen Gruppe. Sie waren völlig von Wasser eingeschlossen. Sie haben wahrscheinlich nicht einmal etwas zu essen. Können wir ihnen nicht irgendwie helfen?«
»Nun ...«, begann Calborth zögernd und rieb einen seiner Bartzöpfe zwischen den Fingern. »Ich kann wohl kaum vor den Hohen Rat treten und Rettungstrupps losschicken lassen, nur weil ein Junge schlecht geträumt hat, oder?«
»Aber es war kein gewöhnlicher Traum!«, erwiderte Alduin beharrlich.
»Ich weiß, wie sehr du deine Mutter vermisst. Vielleicht hat es damit zu tun?«
Alduin schüttelte niedergeschlagen den Kopf und wirkte so verzweifelt, dass der Falkenmeister plötzlich tiefes Mitleid empfand. »Gut, Alduin, ich sage dir, was ich tun werde. Ich werde mal herumfragen, ob irgendwelche Falken heute in diese Richtung fliegen. Und du beschäftigst dich jetzt mit Rihscha. Das ist eine wichtige Zeit für ihn. Er braucht dich ständig in seiner Nähe, sonst ...«
Schon die Andeutung reichte aus, um Alduin aus seinem Elend zu reißen. »Ja, ich weiß. Ich werde ganz für ihn da sein.« Er wandte sich ab. »Danke«, fügte er noch hinzu, dann rannte er schnell davon.
Später am Tag, als Alduin mit Rihschas Flugübungen beschäftigt war, kam der Falkenmeister zu ihm und sah ihn mit bestürzter Miene an.
»Ich war heute Morgen im Ratsgebäude, mein Junge, als gerade ein Falke ankam. Du hattest Recht, im Westen hat es eine gewaltige Überschwemmung
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