Falkensaga 01 - Der Schrei des Falken
nur gelang, die seltsame Gabe zu beherrschen.
Leider sahen das nicht alle so. Als er an diesem Nachmittag mit Calborth darüber reden wollte, lehnte der Falkenmeister strikt ab.
»Ich habe bereits mit den anderen Lehrern gesprochen. Wir sind alle der Meinung, dass wir dein Leben nicht noch einmal aufs Spiel setzen dürfen«, erklärte er fest, aber seine Stimme klang auch mitfühlend. »Du kannst weiterhin mit Rihscha üben, aber ich werde genau darauf achten, dass du nicht mehr mit ihm fliegst.«
»Aber ...«, begann Alduin entsetzt.
»Ich weiß, dass du enttäuscht bist, aber wir müssen erst einmal herausfinden, was das alles bedeutet«, unterbrach ihn der Falkenmeister.
»Aber wenn ich nicht mit ihm fliege, kann ich es auch nicht herausfinden! Dann werde ich nie lernen, wie ich diese Gabe nutzen kann!«
»Gabe?«, fragte Calborth erstaunt. »Kommt mir eher vor wie ein Fluch.«
»Wenn es ein Fluch ist, dann kann ich ihn sicherlich so in den Griff bekommen, dass er zu einem Vorteil wird«, sagte Alduin beharrlich. »Das könnte unglaublich hilfreich sein.«
»Schon möglich, aber du musst geduldig sein und warten, bis du ein wenig älter bist. In deinem Alter hat man ohnehin eine schwierige Zeit vor sich.«
»Was meint Ihr damit?«
»Wenn man zum Mann heranwächst, geraten die Gefühle mächtig durcheinander. Nicht gerade die beste Zeit, um mit solch ungewöhnlichen Begabungen zu experimentieren. Deshalb wirst du ganz normal mit deinem Falken weiter das Fliegen üben, aber nicht mit ihm fliegen.«
Alduin merkte, dass Calborth fest entschlossen war, deshalb versuchte er nicht weiter ihn umzustimmen. Er hatte ohnehin nicht vor, sich an das Verbot zu halten. Die Frage war deshalb nur, wie er es unbemerkt umgehen konnte.
9
Das Verbot zu umgehen war leichter gesagt als getan. Während der folgenden Tage hatte Alduin den Eindruck, dass man ihn nie mit Rihscha allein ließ. Entweder Calborth oder Bardelph waren ständig in seiner Nähe. Seine Mutter, die besser verstand, was er durchlitt, glaubte, dass es besser sei, zu warten und sich genau zu überlegen, wie man am sichersten weiter vorangehen könne. Doch je stärker alle auf Vorsicht drängten, desto entschlossener war Alduin, den weiteren Verlauf in die eigene Hand zu nehmen.
Dann, an einem ruhigen Nachmittag, ergab sich plötzlich eine Gelegenheit. Er kam spät mit Erilea von einem Spaziergang zum Hafen zurück. Die Tür zur Bruthalle stand einen Spalt weit offen, aber es schien niemand drinnen zu sein.
»Warte«, sagte er zu Erilea und blickte sich schnell auf dem Hof um, bevor er die Tür vollends aufstieß und sie hineinzog.
»Hier dürfen wir eigentlich nicht hinein«, flüsterte sie, »jedenfalls ich darf es nicht. Nur wenn uns Meister Calborth einlädt.«
»Wir bleiben ja nicht lange. Wenn wir erwischt werden, nehme ich alle Schuld auf mich, aber diese Chance kann ich mir nicht entgehen lassen. Hilfst du mir?«
»Das weißt du doch, aber was hast du vor?«
»Ich will Rihscha fliegen lassen und ich will mit ihm fliegen. Dich brauche ich, damit du aufpasst, nur für den Fall, dass ...«
Erilea riss die Augen weit auf. »Oh, Alduin - und was ist, wenn es noch einmal schief geht?«
»Schau mal, du hast doch selbst gesagt, dass das alles eine Bedeutung haben muss und dass wir darauf vertrauen sollten. Ich glaube, was neulich passiert ist, war nur ein dummer Unfall. Das wiederholt sich nicht noch mal.«
Währenddessen hatte er sich ein Stück Fleisch in die Tasche gesteckt und den Handschuh übergestreift. Nun griff er in den Käfig und hob Rihscha heraus. Der Falke war hellwach und schien sich auf Alduins Stimmung einzustellen.
»Siehst du? Rihscha ist voller Zuversicht, ich kann es spüren. Es war kein Zufall, dass die Tür offen stand. Ich muss es probieren.«
Erilea nickte nur und folgte Alduin nach draußen. Nachdem sie geprüft hatten, ob die Luft rein war, schlichen sie über den Hof und leise wie die Wildkatzen zum hinteren Tor hinaus.
»Wir können nicht mehr vor die Stadtmauern«, gab ihm Erilea zu bedenken. »Die Tore werden bald geschlossen und die Wächter würden fragen, wohin wir jetzt noch wollen.«
»Du hast Recht. Dann gehen wir eben zum Aussichtspunkt.«
Von den Klippen konnten sie weit über den klaren pfirsichfarbenen Abendhimmel blicken, der im Westen in ein sanftes Türkis überging und sich im Osten samtblau färbte. Sie setzten sich auf den Felsen.
»Rihscha«, begann Alduin und blickte dem Falken in die
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