Falkensaga 02 - Im Auge des Falken
Nur die Angst, dass er für immer seine vertraute Welt verlassen könnte, hielt ihn zurück. Seine Gedanken kreisten um Erilea, und zum ersten Mal versuchte er sich auszumalen, wie eine gemeinsame Zukunft mit ihr aussehen könnte. Freude, Mühsal, Abenteuer und sogar Streit sah er. Es fühlte sich so echt an, dass er ihre Gegenwart mit jeder Faser seines Körpers spürte. Dann gingen ihm Mutter, Bardelph, Rael, Meister Calborth und so viele andere durch den Sinn, die eng verwoben waren mit seinem Leben. In letzter Zeit hatte er sie nicht so häufig gesehen, wie ihm lieb gewesen wäre. Er hatte das Bedürfnis, noch so vieles nachzuholen und Begonnenes zu beenden!
Zu guter Letzt erinnerte er sich an das Gesicht des bewusstlosen Mannes, von dem er wusste, dass er sein Vater war. Mit ihm fühlte er sich tief verbunden, obwohl er noch nie mit ihm gesprochen hatte. Ihre Leben waren untrennbar miteinander verknüpft.
Wieder sah er die blassen, reglosen Züge vor sich, und in diesem Moment stand es ihm klar vor Augen, dass er trotz alledem seinem Schicksal nicht entrinnen konnte. Er hatte keine Wahl. Was immer er entdecken mochte, es gab keinen Weg zurück. Er musste herausfinden, was mit Cal und Krath geschehen war, um zu sehen, ob es eine Möglichkeit gab, ihnen zu helfen.
»Rihscha», sagte er und streichelte den Falken. »Wie bin ich froh, dass zumindest du bei mir bist.« Er tauschte einen Blick mit ihm und fand in den weisen Augen des Tieres Sicherheit.
Alduin ging in Richtung des Turmes und durch die Tür.
Statt einer Wendeltreppe nach oben führten die Stufen in die Erde hinein. Der Eindruck entstand, als sei der Turm auf den Kopf gestellt.
Alduin stieg berauscht Stufe für Stufe in die Tiefe. Dabei war er von einem Licht umgeben, das mit jedem Herzschlag reicher und strahlender wurde.
Als er am Fuß der Treppe angelangt war, eröffnete sich um ihn eine sanft erhellte Kammer mit sieben Seiten. Jede davon war mit einem wunderschönen Bogen aus filigran gearbeitetem Mauerwerk verziert. Im Halbschatten unter jedem der Bögen machte er die fließenden Bewegungen einer sanften Meeresdünung aus. Doch sosehr er sich auch anstrengte, er konnte nicht erkennen, was es war. Über ihm wölbte sich die Decke zu einer Höhe auf, die so gar nicht im Verhältnis des kurzen Abstiegs stand. Sie war gestützt von sieben Bögen, die mit der Turmmitte zu einem Stern verschmolzen.
Plötzlich leuchtete einer der Bögen auf, als hätte sich für einen kurzen Augenblick eine Tür geöffnet, die den Schimmer der Morgenröte einfallen ließ, bevor sie sich wieder schloss.
Eine Gestalt trat heraus, und als Alduin sie erkannte, überkam ihn eine Mischung aus Erleichterung, Verwirrung und Zweifeln. Vor ihm stand nun das seltsame Wesen, von dem er überzeugt war, dass es ihn in dem Dorf am Vulkan gerettet hatte. Der Körper war weder gebückt noch auf einen krummen Stab gestützt. Das Haar sah nicht mehr aus wie ein zerrupftes Vogelnest. Das Wesen stand in voller Größe aufgerichtet vor ihm. Das weiße Haar war in eleganten Strähnen um den Kopf gedreht, so strahlend und schön wie bei einem exotischen Vogel. Der edle Federmantel schwebte sanft in einer Brise, die sonst nirgends zu spüren war. Die Gesichtszüge waren der perfekte Verschnitt zwischen dem eines menschlichen Wesens und dem eines Falken. Sie waren so voller Liebe und Herzlichkeit, dass Alduin nicht anders konnte, als der Gestalt entgegenzulaufen.
Sosehr sie sich auch bemüht hatte, es war Erilea nicht gelungen, die ganze Nacht wach zu bleiben. Sie hatte beobachtete wie Alduin mit steten Zügen durch das dunkle Wasser des Sees geschwommen war, und sie hatte sich sogar eingebildet, tatsächlich zu sehen, wie er die ferne Insel erreichte und ans Ufer kletterte. Wenn sie die Augen zusammenkniff, um mehr zu erkennen, wurde die Insel nur noch verschwommener, daher hatte sie es nach einer Weile aufgegeben. Alduin hatte sich schweigend verabschiedet. Erilea wusste nicht, wann er zurückkommen würde. Sie hatte sich auf eine lange Wartezeit eingerichtet.
Als die Einsamkeit nach ihr griff, nahm sie Alduins Decke, hüllte sich darin ein, atmete seinen vertrauten Geruch ein und kämpfte gegen die Tränen an, die sie zu überwältigen drohten. Als sie endlich einschlief, hatte sie einen seltsamen Traum. Elin - die Arekkatze - besuchte sie. Sie lief vor ihr her über eine weitläufige Ebene, in der keinerlei Pflanzen oder Bäume wuchsen. Der Horizont flimmerte vor ihr in der
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