Falkenschwur: Die Fortsetzung des Bestsellers »Pestsiegel« (German Edition)
schien mich nicht zu hören und schob es zurück in seine Tasche.
»O bitte, Vater, lasst mich … bitte!«
Ich glaube, er registrierte zum ersten Mal, dass ich ihn so nannte. Er errötete und reichte mir wortlos das Fernglas. Begierig blickte ich hindurch, riss es indes hastig zurück, als die Böschung auf mich zuzustürzen schien und ich fürchtete, sie würde mich überrollen. Gleich darauf erfüllte mich Enttäuschung. Ich konnte nichts erkennen bis auf ein verschwommenes Bleigrau. Ich dachte, die Gläser seien verschmiert, aber nein. Also musste es an meinen Augen liegen. Ich hob das Fernglas höher und erbebte ehrfürchtig. Dies war wahre Zauberei, die Art von Magie, von der Matthew oft behauptet hatte, sie zu beherrschen, die er aber nie zustande gebracht hatte.
Ich schien nur ein Stück, etwa eine Feldlänge, vom Palast entfernt zu sein. Ich nahm das Glas von den Augen, um mich zu vergewissern, dass man mich nicht leibhaftig dorthin versetzt hatte. Mein Vater schmunzelte über mein Entzücken. Ich konnte den Schlamm im Burggraben und die Steine der Mauern erkennen, richtete benommen den Blick nach oben, wo er kurz zwischen den gewundenen Schornsteinen verweilte, ehe ich ihn wieder nach unten gleiten und schließlich auf einer Art Terrasse zur Ruhe kommen ließ. Sie lag weiter entfernt, und das Bild war verschwommen, wie bei den Gegenständen, die zu nah waren. Ich wollte gerade den Blick wieder zum Dach richten, als eine Gestalt auftauchte. Sie blickte hinauf zum Himmel und kam dann auf mich zu, wodurch sie ein wenig schärfer wurde. Enttäuschenderweise blieb der Mann stehen, entfernte sich und wurde wieder unscharf. Er hatte etwas fallen gelassen. Als er es aufhob, sah ich nur einen roten Fleck, aber für einen Moment wurde sein Gesicht deutlicher, und ich erkannte den Spitzbart und die langen Haare.
»Der König! Ich kann den König sehen!«
Mein Vater riss mir das Fernglas aus der Hand und sah hindurch, ohne sich zu rühren. Er schüttelte den Kopf. »Das ist einer der Kammerdiener. Sie äffen alle seinen Bart nach.« Er steckte das Fernglas zurück in die Tasche. Inzwischen hatten wir die Insel ausgespäht und wurden kühner, als wir kein Anzeichen von Leben entdeckten, bis auf ein Rudel verloren wirkenden Rotwilds, das sich in einem Wäldchen zusammendrängte.
Mein Vater wurde plötzlich unruhig. »Wir müssen sie finden.« Unvermittelt warf er mir einen misstrauischen Blick zu. »Das heißt, wenn sie überhaupt hier sind.«
Ich hob die Schultern. Trotz des väterlichen Umhangs fing ich wieder an zu zittern. »Vielleicht wollten sie wirklich nur ein paar Enten schießen.«
Er packte mich am Kragen. »Sagt Ihr die Wahrheit? Habt Ihr sie gehört? Kennt Ihr sie?«
»Warum sollte ich lügen?«
Er ließ mich los. »Ja. Warum solltet Ihr?«
Erneut wechselte er einen Blick mit Jan. Anschließend zog er die Branntweinflasche hervor und bot mir davon an. Ich schüttelte den Kopf. Jeglicher Elan schien ihn verlassen zu haben. Er starrte hinaus auf den Fluss, schnippte ein paar Regentropfen weg, die sich in seinen buschigen Brauen gesammelt hatten. Das Boot knarrte und schaukelte sacht. Jake tauchte die Riemen gerade weit genug ein, um das Boot in Position zu halten. Zweige und allerlei Geäst, das im nächtlichen Sturm gebrochen war, sowie der Abfall vom Palast trieb an uns vorbei.
»Ich gehe zum Palast hoch und warne die Soldaten«, sagte ich.
»Und hetzt sie mir auf den Hals?«
»Glaubt Ihr, das würde ich tun?«
Jake gab uns ein Zeichen, leise zu sein. Mit dem tropfenden Riemen deutete er auf eine Weide, deren Zweige bis ins Wasser hingen. Sie hatte ihre Blätter verloren, aber die Zweige waren so eng miteinander verwoben und das Licht war so schlecht, dass ich nicht erkennen konnte, was Jake uns da zeigte. Er ruderte näher ans Ufer. Jetzt sah ich es. Zwischen den Zweigen der Weide wucherte dunkelgrüner Efeu, der bei flüchtigem Hinsehen den Anschein erweckte, er ranke sich den Stamm empor. Es brauchte den Blick eines Fährmanns, um zu erkennen, dass die Blätter an den Rändern braun und verdorrt waren. Sie verbargen den Bug eines Bootes.
Als wir anlegten, befahl Richard mir, das andere Boot zu durchsuchen, während Jan und Scogman auskundschaften sollten, wie wir an den King Henry’s Ride herankämen. Richard schien mit dem Gelände vertraut zu sein. Vor dem Krieg, flüsterte er mir zu, habe er hier gejagt. Er wies auf eine Stelle, an der Jake unser Boot verstecken sollte. Ich nahm eine
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