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Fallkraut

Fallkraut

Titel: Fallkraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucette ter Borg
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tuckert eine Märklinbahn mit Güterwaggons durch eine Landschaft aus rotkragigen Hühnerkeulen, Petersiliensträußchen, glänzenden Koteletts und hellrosa Schweinefilets auf Silberpapier. In den Waggons sind glitzernde Salzkristalle, Pfefferkörner und winzige Kisten mit bunt gefärbten Saftflaschen aufgehäuft.
    Ich schaue auf den Rücken meiner Schwester und vor allem auf das weiche Stück Nacken, das unter ihrem Dutt hervorlugt. Ach Tine, so nachgiebig. Pflückte so gern Blumen für Mama. Wilde Hyazinthen, Jakobsleitern, Margariten, Storchschnäbel, Wiesenschaumkraut. Machte den leckersten Kaffee für Papa. Mahlen, Wasser kochen, Tassen, Kaffeekanne, Zucker und Milch bereitstellen, den Kaffee auf einem Hocker einschenken. So Tine, so sanft.
    Ich trete zu ihr. Zweimal legt die Modelleisenbahn die Strecke zurück. Immer wenn sie zwischen den dicken rosa Beinen eines lachenden Plastikschweins hindurchfährt, ertönt eine Dampfpfeife, ich kann es durch das Ladenfenster hören.
    Bei der dritten Runde sage ich: »Wenn du mich in Zukunft aus dem Spiel lässt, brauchen wir uns nicht mehr so zu streiten. Ja?«
    Ich berühre ihren Arm. Was sieht Valentine in diesem Spielzeugzug und dieser Landschaft aus Fleisch?
    Â»Sie sind zu nichts gut, unsere Streitereien«, sage ich. »Wir sind doch nicht mehr die Kinder von früher? Wir haben Urlaub. Komm. Wir wollen uns die Stimmung nicht verderben. Schwamm drüber. Ich habe das von vorhin schon wieder vergessen.«
    Warum antwortet Valentine nicht? So schwer ist es doch nicht, eine ausgestreckte Hand zu ergreifen. Denkt sie an Otto und seine Spielzeugeisenbahn? Mein Gott, ­jedes Mal, wenn der Kleine eine neue Kurve auf dem Dachboden verlegt hatte, mussten wir alle hinauf und ihn loben, als ob er die Eigernordwand bestiegen hätte. Bravo Ottolein, wie toll du das wieder zusammengebaut hast, was bist du nur für ein Genie, blablabla und noch mehr solchen Unsinn.
    Â»Wir sind auf Reisen, Tine«, sage ich. »Wir haben frei. Ich habe frei. Ich möchte nicht an das Orchester denken. Niemand braucht zu wissen, dass ich Geige spiele oder was in dem Kasten in meinem Zimmer ist. Und wenn es Nacktfotos, Dollars oder Maschinengewehre wären.«
    Â»Schönes Fleisch«, sagt Valentine.
    Ich versuche, Valentines Hand zu ergreifen. »Komm, wir vertragen uns wieder.« Ich halte meine Hand so, wie wir es früher nach einem Streit getan haben. Ein Schlag auf die eine, ein Schlag auf die andere Hand, dann spielen wir weiter.
    Â»Dieser Fleischer ist ein Mann, der sein Handwerk liebt«, sagt Valentine. »Das sieht man. Er entbeint die besten Stücke und präsentiert sie den Kunden so vorteilhaft wie möglich.« Valentine dreht den Kopf zur Seite und blickt mich an. »Sind wirklich Nacktfotos in deinem Geigenkasten?«
    Â»Natürlich nicht.« Ich wünschte, mein Herz würde mir nicht mehr so in der Brust herumspringen, meine Hände würden nicht mehr zittern und ich könnte die hässlichen Worte, die ich Valentine gerade mit meiner Zunge ins Gesicht geschleudert habe, zurücknehmen. Vorsichtig, ohne Valentine wehzutun, will ich die Worte von ihren Wangen und ihrer Nase und ihrer Stirn klauben und wieder in meinen Mund zurückstecken.
    Â»Aber warum«, fragt Valentine langsam, »warum hast du deine Geige noch nicht ein einziges Mal herausgeholt?«
    Â»Wir haben doch Urlaub?«
    Â»Du hast nicht mal nachgesehen, ob deine Geige die Reise gut überstanden hat.«
    Â»Herrlich, Urlaub.« Ich strecke die Arme über dem Kopf und recke mich.
    Â»Ob deine Geige noch rein klingt.«
    Â»Schau nur, wie schön der Rhein in der Sonne liegt«, versuche ich Valentine abzulenken. »Und diese Berge da. Wollen wir heute Nachmittag …«
    Â»Musst du nicht üben?«
    Â»Ãœben?«
    Â»In der Musikschule sagen sie, dass es für Ältere immer schwieriger wird gegen jüngere Musiker anzukämpfen. Dass gerade alte Menschen üben müssen. Du hast heute Morgen von diesem Kollegen erzählt, der zurückgesetzt worden ist.«
    Â»Oh, sagen sie das in der Musikschule?« Ich lache. »Ich übe während der Auftritte und der Proben.«
    Â»Aber hier trittst du nicht auf«, sagt Valentine. »Und du hast auch keine Proben.« Valentine schaut nicht mehr in das Schaufenster. »Ist da überhaupt was drin, in deinem Kasten?«
    Â»Weißt

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