Fallkraut
anschauen.«
»Unsinn.« Noch eine Runde mit dem Zug.
»Du konntest es nicht ertragen, wenn du jemanden neben dir hattest. Auch ich durfte nie mehr sein als eine Perle in deiner Krone. Hat es dir gefallen, wenn die Leute nach einem Auftritt zu mir kamen?« Valentine lacht.
»Eine Perle? Davon weià ich nichts. Ich mache mir nichts aus Juwelen.«
»Wie das mal werden soll, wenn du in Rente gehst und dich niemand mehr anschaut.« Valentine fasst sich an die Brust, »ich halte mein Herz fest und Sjors auch. Ja, wir beide machen uns schon manchmal Sorgen um dich.«
Wie schnell kann der Zug fahren, bevor er aus der Kurve fliegt?
Wie schnell kann ich einen Berg hinunterradeln, ohne dass ich aus der Kurve fliege?
Wie schnell kann ich von der Hochebene nach Sonnenberg rennen, ohne dass ich über meine FüÃe stolpere und mit dem Gesicht in das Fallkraut schlage?
Zwanzig Stundenkilometer?
Achtundzwanzig?
»Wir verpassen Annelores Mittagessen«, sage ich. »Los, wir müssen uns beeilen.«
Ãber den Rheinboulevard kriecht eine Kolonne von Lastautos, Caravans, Personenwagen. Wir warten vor Âeinem Laster mit Mist, der rechts abbiegen will. Ich halte mir die Hand vor die Nase, der Lärm des Dieselmotors ist ohrenbetäubend, der Boden unter meinen FüÃen zittert, als der Laster beschleunigt. »Warum«, frage ich, »warum bist du so gemein?«
»Fragt die Gemeine.« Valentine macht eine wegwischende Handbewegung und schreitet aus.
Annelores verschwitzter Kopf schaut aus der Küchentür. »Es gibt Wiener Schnitzel mit Spaghetti und Frikadellen in Tomatensauce. Ein halbes Hähnchen mit Erbsen und Bratkartoffeln. Ragout mit Pilzen und Salat. Und als Tagesgericht Bratwurst mit Sauerkraut. Die Bratwurst und das Ragout sind alle.«
Ich nehme etwas, das nicht so schwer im Magen liegt. Das halbe Hähnchen.
Valentine wählt die Spaghetti mit Schnitzel.
Die Gaststube ist mit Winzern und Touristen gefüllt. Die Hunde auf der Terrasse bellen, aber der Lärm stört mich nicht. Valentine hat sicher beschlossen, den Mund nicht mehr aufzumachen, Gott sei Dank, wenn sie sich nicht mit mir vertragen will, was hat es dann für einen Sinn, zu reden? Als Annelore meinen Teller bringt, richte ich meine ganze Aufmerksamkeit auf mein Hähnchen, die Schüssel Erbsen und das versilberte Pfännchen mit Bratkartoffeln.
Zum Nachtisch gibt es Kirschtorte mit Schlagsahne. Dann bin ich bis oben hin voll. Wenn ich noch mehr esse, platze ich. Ich lehne mich zurück und öffne meinen Hosenknopf.
»Ich gehe mich ausruhen«, sagt Valentine. Es ist das Erste, was sie während des Essens sagt. »Ich habe keine Lust mehr auf einen Ausflug heute Nachmittag.«
»Mir recht«, antworte ich. Ich nehme einen Zahnstocher und entferne die Reste der Mahlzeit zwischen meinen Backenzähnen. »Geh ruhig schon hoch«, lispele ich. »Ich trinke noch einen Kaffee. Bis gleich.«
Tschüss Tine. Hau bloà ab. Ich spüre den Schlüssel des Geigenkastens in meiner Tasche. Mit dem Kasten wird Tine jedenfalls nicht zurande kommen. Ich lächle Annelore zu, die den Tisch abräumt. »Für mich noch einen Kaffee, und bringen Sie mir einen Schnaps dazu.«
Während ich die Milch in meinen Kaffee rühre, muss ich an Adriaan denken, der eine Tasse Reis in die alte böhmische Geige eines meiner Schüler kippte. Adriaan schüttelte den Resonanzkörper hin und her. Es klang nach spanischen Rumbakugeln. Adriaan drehte die Geige um, und mit dem Reis kamen groÃe braungraue Staubnester herausgerollt.
»Das ist der Anfang«, sagte Adriaan. »Guck, das Fett von der Braunkohle ist noch dran.«
Doch ich schaute nicht hin, denn in meiner Heimat im Erzgebirge ging durch die Braunkohle schon seit Jahren alles kaputt: Wälder, Menschen, Tiere, ganze Dörfer verschwanden in Schächten. Darüber wunderte sich kein Hund mehr.
Adriaan ist Geigenbauer in Bentheim, aber ursprünglich kommt er aus Hengelo. Ich habe ihn kennengelernt, als ich noch niemanden in Holland kannte, auÃer Valentine, Sjors und Karel. Adriaan sprach flieÃend Deutsch, denn er hatte seine Ausbildung zum Geigenbauer in ÂMittenwald absolviert. Das lag irgendwo an der Grenze zwischen Bayern und Ãsterreich. Adriaan sprach viele Sprachen flieÃend, Deutsch, Französisch, Polnisch, ItaÂlienisch, Englisch. Ein paar Brocken Russisch hatte er bei
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