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Fallkraut

Fallkraut

Titel: Fallkraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucette ter Borg
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einem geflüchteten Geigenspieler aufgeschnappt, der einen Riss in der Decke seines Instruments reparieren ließ, bevor er nach Amerika weiterfuhr. Von diesem spindeldürren Russen lernte Adriaan zu fragen, wo sich die Bushaltestelle befindet. Dieser Satz dauerte so lange, dass kein einziger Russe, der bei Verstand war, auf der Straße warten würde, bis man beim Fragezeichen angekommen war. Aber das machte nichts. Es klang über­zeugend, sagte Adriaan.
    Nachdem ich die Geige von dem Mann an der Tür gekauft hatte, rief ich Adriaan an. Sjors war mit dem Motorrad unterwegs.
    Â»Hast du morgen Zeit?«, fragte ich Adriaan.
    Â»Für dich immer«, antwortete er.
    Â»Dann bin ich um zehn bei dir.«
    Er holte meine Geige aus dem Kasten, legte sie auf seine Werkbank und schnalzte. »Pfui Teufel«, sagte er, während er samtweiche Handschuhe überstreifte, »ist die schmutzig.« Er steckte seine Nase in ein Schallloch und schnupperte. »Schimmel.« Er drehte die Geige um und tastete mit den Fingerspitzen die Masern des Holzes ab. Dabei hielt er den Blick an die Decke über seinem Kopf gerichtet. »Sprünge im Lack. Ein Riss«, murmelte er. »Aber, nein, Gott sei Dank, kein Riss im Stimmstock.« Er nahm die Geige vorsichtig hoch, kniff die ­Augen zusammen und spähte an den Zargen entlang. »Keine offenen Nähte. Und keine Wurmstiche.«
    Ein Muskel über meinem rechten Mundwinkel zuckte. Ich rieb, um die Bewegungen zu unterbinden. »Der Klang, Adriaan«, fragte ich und räusperte mich. »Was meinst du, der Klang könnte also gut sein?«
    Â»Könnte sein«, sagte Adriaan. »Wir müssen ein paar gute Saiten aufziehen. Dann bekommen wir einen ersten Eindruck.«
    Adriaan zog Saiten auf, stimmte sie und überreichte mir das Instrument. Er griff einen Bogen aus einer Vitrine und spannte ihn. »Voilà«, sagte er.
    Ich spielte ein paar Tonleitern und auf Adriaans Bitte hin den Anfang von Mendelssohns Violinkonzert in e-­Moll . Ich vertat mich ein paar Mal, obwohl ich die Musik in- und auswendig kannte. Dann sagte Adriaan: »Ich will die E-Saite hören, laut hören.«
    Also strich ich über die schwierigste aller Saiten. Ich strich, als ob ich eine Frühstücksdecke voller Krümel, Eierschalen und Zwieback ausklopfen würde. Mit dem Mut der Verzweiflung. Aus Leibeskräften. Aber mit der Zeit ging es mühelos. Alles wurde rein und wie neugeboren. Alles noch einmal ganz neu, nur meine Wangen, die wurden rot wie ein Krebs.
    Â»Stopp«, bedeutete mir Adriaan nach etwa zehn Minuten. Er ging zu einem hohen Holzschrank hinten in der Werkstatt. Untendrin war ein Kühlschrank eingebaut. Adriaan zog das Gefrierfach auf und holte eine Flasche Wodka mit zwei Schnapsgläsern hervor. Er schenkte sich ein Glas ein und kippte es in einem Zug hinunter. Dann schenkte er mir ein. »Cheerio.«
    Ich legte meine Geige auf Adriaans Werkbank und schüttete das Glas Wodka genau wie er in einem Zug hinunter. Adriaan hielt mir die Flasche wieder hin. Er schenkte ein, ich trank, er schenkte ein, er trank. Ich saß. Er lief hin und her. Er wollte alles haarklein wissen. Was das für eine Geige sei? Wo ich sie genau herhatte? Erzähl noch mal. Wie sah der Mann aus?
    Ja Gott, normal, sagte ich, ein Zigeuner. Er hatte Kohlenschaufeln, keine Geigenhände. Er übernachtete bei Weiss, doch er kam aus Dresden. Er brauchte dringend Geld. Weiss meinte zu ihm: Geh zur Raffelsberger, ein Weibsbild, das seinen Mann steht, die beste Geigerin weit und breit. Schau mal, ob sie was an deiner Fiedel findet. Aber sieh dich vor: Wenn du sie übers Ohr haust, spieße ich dich auf.
    Was der Zigeuner erzählt hat? Adriaans Frage endete in einem heiseren Röcheln. Ich wartete einen Moment, bevor ich antwortete. Adriaans Augen waren verschleiert, seine Lider zitterten, sein Adamsapfel gluckste unter der bleichen Stoppelhaut auf und ab.
    Ich zuckte mit den Schultern. Du weißt schon, so eine Geschichte, wie sie jeder Geigenbauer kennt. Steinalte Dame in einem Vorort von Dresden. Bürgersteige voll Dreck, leeren Flaschen und anderem Unrat. Plattenbau. Fahrstuhl, der nicht funktioniert. Zitternd auf einem ­verschlissenen Sofa. Eine verwachsene Heuschrecke. Rheuma. Früher Solistin im Gewandhausorchester gewesen. Behauptet sie. Arm wie eine Kirchenmaus. Eine Geige, die sie von ihrer Mutter bekommen hat, und die hatte das

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