Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 2 - Die Goetter von Amyrantha
Nase. Jeder Atemzug enthielt Sand. Sie spürte, wie der dünne Schleier, den sie trug, im Sturm zerriss und sich in Fetzen auflöste. Verängstigt und halb überzeugt, dass dies das Ende war, hätte sie bitterlich geweint, wenn sie noch genug Flüssigkeit in sich gehabt wäre, um Tränen hervorzubringen ...
Sie riskierte es, die Augen zu einem winzigen Schlitz zu öffnen, und sah sich nach Tiji um, aber ihre Sicht war minimal. Und selbst wenn sie mehr als ein paar Zentimeter durch den schneidenden Sandsturm hätte erkennen können, verwehrten die aufgehäuften Sandmassen um die eingegrabenen Karawanenmitglieder jede Sicht. Von der kleinen Crasii war keine Spur zu sehen.
»Tiji«, schrie sie. Der Sturm riss ihre Stimme weg, und ihr Mund füllte sich sofort mit Sand. Sie spuckte ihn aus und rief erneut, dann versuchte sie, sich auf Hände und Knie aufzurichten, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war. Sie würgte heftig, als der wirbelnde Flugsand sie zu ersticken drohte, aber sie musste sich unbedingt vergewissern, dass sie nicht die einzige Überlebende in diesem Chaos war. Dass die anderen nicht längst erstickt waren und ihr eigener Todeskampf bloß ein wenig länger dauerte ...
Und dann, ohne Vorwarnung, hörte der Sturm plötzlich auf.
Ihre Ohren schrillten von der unerwarteten Stille. Arkady wartete einen Augenblick, bevor sie es wagte, die Augen zu öffnen. Sie kam auf die Beine und sah sich um. Fassungslos merkte sie, dass der Sturm immer noch rings um sie wütete, doch aus irgendeinem Grund erfasste er sie nicht mehr, sondern sie stand aufrecht und geschützt in einer unsichtbaren Blase aus Ruhe.
»Arkady?«
Sie rang keuchend nach Atem, dankbar für das unerwartet großzügige Geschenk frischer Luft. Schwarze Lichter tanzten vor ihren Augen, und sie bildete sich ein, dass jemand ihren Namen sagte. Vielleicht hatte ihr Unverstand sie ja getötet und sie litt unter Halluzinationen, während sie starb ...
»Gezeiten, Weib, was hast du dir dabei gedacht?«
Die Stimme war wirklich, stellte sie fest, und bestimmt würde der Tod es nicht mit sich bringen, dass man so viel Sand ausspucken musste, ehe man antworten konnte. Schwindelig und orientierungslos drehte Arkady sich um, aber ein Fetzen Schleier versperrte ihr die Sicht. Ungeduldig zerrte sie die Reste des zerrupften Kleidungsstücks herunter.
In dieser unerklärlichen Blase aus Ruhe, in der sie sich befand, stand eine weitere Person, unbehelligt und offenbar auch unbeeindruckt von dem tobenden Sandsturm. Langsam richtete sich Arkady auf und wandte sich ihm zu, zitternd, verstört, aber irgendwie doch nicht überrascht, ihn zu sehen.
Schließlich war er ein Gezeitenfürst. Er beherrschte die Elemente.
»Cayal«, brachte sie krächzend heraus.
Und dann wurde sie ohnmächtig.
55
Die durch eine Botin überbrachte Bitte, den in Ungnade gefallenen Fürsten von Lebec in seiner Zelle im Kerker von Herino aufzusuchen, kam für Declan nicht überraschend. Sie hätte allerdings zu keinem schlechteren Zeitpunkt kommen können. Tryan und Elyssa waren in der Stadt, der Prozess des Fürsten sollte morgen beginnen, und zudem gab es die bedrohliche Neuigkeit, dass Jaxyn Aranville hinter dem Rücken des Ersten Spions bereits eine Schwadron Crasii nach Torlenien gesandt hatte, um Arkady in Haft zu nehmen. Bei alledem hatte Declan weder Zeit noch Lust, noch eine Stunde damit zu verschwenden, dass er sich Stellan Deseans weltfremde und lästige Ausführungen zum Thema Ehre anhörte.
Auf die geringe Chance hin, dass der Fürst nicht bloß sein unglückseliges Schicksal beklagen und sich bedauern wollte, beschloss Declan, kurz bei ihm vorbeizuschauen. Es war schon spät, die Nacht war dunkel und bewölkt und kündigte dräuend noch mehr Regen an. In der Ferne, über der spiegelglatten Oberfläche des Unteren Oran, flackerten auf der caelischen Seite der Grenze sporadisch Blitze auf und warnten vor dem herannahenden Gewitter.
Declan betrat das Gefängnis und hoffte auf etwas Ergiebigeres als nur eine weitere fruchtlose Debatte über die Ehre der Deseans und den Wunsch, Glaebas neuen König zu schützen. Selbst wenn Stellan nicht vorhatte, sich gegen die erhobenen Anschuldigungen zu wehren, konnte er - das war wohl das Mindeste - Declan doch mitteilen, welche Vorkehrungen er für Arkady getroffen hatte, ehe er Torlenien verließ. Wenn in der südlichen Hauptstadt erst der Niedergang des Hauses Lebec bekannt wurde, würde sie allen Schutz verlieren, den ihre
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