Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 2 - Die Goetter von Amyrantha
einem Unsterblichen, dessen Spezialität die Verführung ist, Mylady. So wie Lord Brynden uns seine Menschlichkeit gezeigt hat, indem er das Opfer seines eigenen Zorns wurde, so zeigt uns Lady Kinta, dass alle Frauen, ganz gleich wie vornehm oder niedrig, immer der grundsätzlichen Labilität ihrer Natur unterliegen. Sie dient als Mahnung an alle Männer, dass man Frauen nicht trauen kann.«
Arkady hätte ihn am liebsten mit irgendetwas beworfen. »Man kann also keiner Frau trauen?«
»Nicht in wichtigen Angelegenheiten«, bestätigte der Mönch. »Sie sind dafür ausgestattet, Leben und Freude zu spenden. Unglücklicherweise trennen sie beides nicht immer voneinander. Es obliegt somit der Pflicht aller verantwortungsbewussten Männer, ihre Frauen vor ihrem eigenen schwachen Urteilsvermögen zu beschützen.«
»Aus diesem Grund zwingt ihr hier in Torlenien wohl auch alle Frauen, sich in Bettlaken zu wickeln.«
»Eine bedeutsame Beziehung beruht nicht auf körperlicher Anziehungskraft, Mylady, sondern auf gegenseitigem Respekt und Vertrauen.«
»Respekt und Vertrauen?«, wiederholte sie ungläubig. »Wie soll denn das gehen, wenn Ihr annehmt, dass alle Frauen ein schwaches Gemüt und eine zweifelhafte Moral haben? Oder sind es nur die Männer, die in Eurer verrückten Theologie Respekt und Vertrauen verdienen?«
Er warf ihr über die Schulter einen raschen Blick zu. »Ihr ereifert Euch, Mylady. Offensichtlich sind diese Auffassungen neu für Euch.«
»Eigentlich sind es sehr alte und abgedroschene Auffassungen, Bruder. Auffassungen, die mich krank machen und die ich nicht mehr hören kann.«
»Ein Grund mehr für Euch, über sie nachzudenken«, sagte er.
»Ich lehne es ab, zu glauben, dass ich moralisch minderwertig sein soll, nur weil ich eine Frau bin.«
»Und ich entschuldige mich dafür, wenn ich Euch falsch beurteilt habe, Mylady. Verratet mir, habt Ihr selbst jemals etwas getan, das Ihr moralisch für fragwürdig haltet?«
»Jeder hat irgendwann einmal etwas moralisch Fragwürdiges getan«, sagte sie. »Selbst Euer edler Fürst der Vergeltung.«
»Wohl wahr, aber wir reden jetzt von Euch, Mylady. Denkt an das letzte Jahr zurück. Habt Ihr gelogen? Habt Ihr Euren Gemahl betrogen, entweder in Gedanken oder mit Taten? Habt Ihr Euch bewusst zu einem Handeln entschlossen, von dem Ihr wusstet, dass es falsch war, und es vor Euch gerechtfertigt, weil Ihr glaubtet, nur Ihr allein könntet - besser als jeder andere - einschätzen, was auf dem Spiel steht?«
»Gezeiten, was seid Ihr eigentlich?«, erkundigte sie sich. »Hat der Abt Euch vielleicht zur Strafe auf mich angesetzt, weil ich Eure elende Abtei durch meine moralisch minderwertige Anwesenheit befleckt habe?«
Sie hatten schon mehr als die Hälfte der flachen Strecke zwischen den sichelförmigen Ausläufern der Felsformation zurückgelegt, an der sowohl die Abtei lag als auch die Anhöhe, auf der Cayal und Tiji auf sie warteten. Der gleichmäßige, raumgreifende Schritt des Mönchs war erstaunlich effizient.
»Ihr habt unsere Abtei nicht befleckt, Mylady. Nicht durch Eure Anwesenheit. Tatsächlich ist Eure Sünde gar keine Sünde. Ihr seid, wenn überhaupt, die Antwort auf die Gebete meines Herrn.«
Arkady brütete fast die ganze nächste Stunde über diese Antwort. Der Mönch verfiel jetzt dankenswerterweise in Schweigen, und Arkady war darüber ausgesprochen erleichtert. Sie fürchtete, jeder Versuch einer Unterhaltung würde nur dazu fuhren, dass er wieder von den Schwächen der Frauen anfing.
Aber als ihr später der Grund für seine Haltung klarwurde, erschien er ihr mit einem Mal so offensichtlich, so sonnenklar und doch so erschreckend, dass sie sich über ihre eigene Blindheit nur noch wundern konnte.
Sie hatten jetzt das andere Ende des Ausläufers erreicht und waren weniger als hundert Schritt von dem felsigen Sims entfernt, wo Cayal und Tiji warteten. Da hielt der Mönch plötzlich an und schlug seine Kapuze zurück. Die Sonne schien ihn nicht länger zu kümmern. Arkady blieb kaum Zeit, dieses sonderbare Verhalten zu hinterfragen, als sie schon Cayal entdeckte, der eilends den Felsen heruntergeklettert kam.
Er erreichte die Ebene im Laufschritt und blieb in Rufweite stehen.
»Lass sie gehen«, rief Cayal. Dann kam er weiter auf sie zu, allerdings ging er jetzt langsam und schien irgendwie auf der Hut zu sein. Er war noch zu weit weg, um seinen Gesichtsausdruck zu erkennen, aber er klang nicht gerade begeistert, sie mit einem
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