Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 3 - Der Palast der verlorenen Traeume
Warlock bisher zu Gesicht bekommen hatte, trugen bunte, bedeutungslose Muster auf den Rückseiten der Karten. Eines wie dieses hatte er noch nie gesehen.
»Seht nur! Es ist wirklich eine Landkarte!«, rief Nyah, deren Neugier ihre Furcht besiegt hatte. Die kleine Prinzessin ließ Warlocks Hand los und trat einen Schritt vor, um einen genaueren Blick darauf zu werfen. »Aber wovon eigentlich? Da sind gar keine Orte genannt.«
Der Fürst, der die Karte fast ebenso gespannt musterte, zuckte die Achseln. »Berge. Oder gebirgiges Gelände. Was wohl heißt, dass es überall und nirgendwo in Amyrantha liegen könnte.«
»Nein«, meinte Elysssa und schürzte ihre Lippen. »Ich glaube, ich habe eine grobe Vorstellung davon, wo es sein könnte.« Mit einem Seitenblick zu ihrem Bruder fügte sie hinzu: »Und es sind bestimmt nicht die Latrinen des Palastes von Herino.«
Tryan ignorierte die Anspielung. Stellan sah sie nur seltsam an.
Elyssa, die immer noch Tryan im Blick hielt, sagte: »Das ist die Landschaft der Shevronberge, rund um Maralyce' Mine.«
Man musste es Stellan Desean lassen: Er rührte keinen Muskel und verzog keine Miene. Tryan schwieg einen Augenblick und sah dann Nyah an. »Wie bist du nach Glaeba gelangt? Du sagst doch, du wärst entführt worden?«
Ohne Zögern erwiderte Nyah: »Ich weiß es nicht, mein Fürst. Sie haben mir ein feuchtes Tuch übers Gesicht gepresst, das mich einschlafen ließ. Als ich aufgewacht bin, waren wir bereits dort.«
Elyssa wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ganz der Landkarte zu. »Vergiss das Kind, Tryan. Sie weiß gar nichts. Gezeiten, ich kann nicht glauben, dass es die ganze Zeit direkt vor unserer Nase lag.«
»Ihr habt nach dieser Karte schon länger Ausschau gehalten, Mylady?«, fragte Stellan geschmeidig.
Sie nickte abwesend, ganz auf die Karten konzentriert. »Wie Eure Frau interessiere auch ich mich für Geschichte.« Nyah trat ein bisschen zu nahe heran und nahm dadurch Elyssa das Licht. Die Unsterbliche blickte missbilligend auf. »Du kannst jetzt wieder zu deinen Aufgaben gehen, Nyah.«
»Aber Cecil sagte, Ihr wolltet mich sprechen –«
»Geh!«
Nyah wich einen Schritt zurück, die Augen schimmernd von mühsam zurückgehaltenen Tränen. Warlock wusste nicht, ob sie etwas vorspielte oder wirklich Angst vor der unsterblichen Jungfrau hatte. Doch was es auch war, es hatte den erwünschten Effekt.
»Oh Gezeiten, Kind, das ist doch kein Grund zu weinen. Ich wollte dich nicht anblaffen.«
»Ich werde sie zurück zu ihren Aufgaben begleiten«, bot Stellan diplomatisch an. »Doch ich wäre Euch verbunden, wenn Ihr mich über Eure Fortschritte auf dem Laufenden hieltet.« Er starrte auf die Karten hinunter. »Dies ist wahrlich faszinierend.«
»Ich danke Euch, Lord Stellan«, sagte Tryan und warf Nyah einen irritierten Blick zu. »Sollten wir auf irgendetwas Interessantes stoßen, werdet Ihr der Erste sein, der es erfährt.«
Der Fürst nickte lächelnd und nahm Nyah an die Hand. Nachdem er sie aufgefordert hatte, ihrem Stiefvater und ihrer Stieftante einen angenehmen Tag zu wünschen, führte er sie aus dem Gemach.
Erst nachdem er die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, wurde Warlock klar, dass Stellan Desean die Unsterblichen nicht nur daran gehindert hatte, der Prinzessin Fragen zu stellen, sondern es fertiggebracht hatte, sie gänzlich von ihr abzulenken – und auch von Warlocks arkartiger Unfolgsamkeit –, ohne dabei auch nur den leisesten Verdacht zu erregen.
Allerdings hatte er dabei möglicherweise den Unsterblichen Zugang zu etwas noch viel Schlimmerem verschafft.
Warlock wusste nicht, wozu die Landkarte gut war. Aber wenn Tryan der Teufel und die unsterbliche Jungfrau so scharf darauf waren, das in die Finger zu bekommen, was immer das Geheimnis der Karten verbarg, dann verhieß das bestimmt nichts Gutes für alle sterblichen Lebewesen auf Amyrantha.
59
Das Haus Medura schickte eine Flotte von fünfzehn von Amphiden gezogenen Flachbooten in die Feuchtgebiete, um den Gezeitenfürsten entgegenzutreten, die es gewagt hatten, ihre Herrschaft in Frage zu stellen. Cydnes Familie war nicht allein bei diesem Unternehmen. Mehrere Schiffe der Armada fuhren unter den Farben des Hauses Pardura, und eins trug sogar die Farben der Ärztegilde. Das Mutterschiff allerdings, welches die Farben des Hauses Medura und die der Gilde trug, stellte noch ein ganz anderes Problem dar, denn an Deck stand mit dem frommen Gesichtsausdruck wahrer Gläubiger ein
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