Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 3 - Der Palast der verlorenen Traeume
Achseln. Offensichtlich hatte er vorgehabt, das Geld zu schnappen und wegzulaufen. »Na, dann kommt«, sagte er mit einem schweren Seufzer. »Hier geht’s lang.«
Nach fast einer Stunde Fußmarsch blieb der Bursche schließlich in einer engen Straße vor einem blitzsauberen Häuschen stehen. Die Gasse war gesäumt von dicht an dicht stehenden properen kleinen Häusern, die sich nur durch die Farbe der Haustür und gelegentliche Blumenkästen voneinander unterschieden. Das Haus, zu dem der Junge Declan geführt hatte, hatte eine blaue Vordertür mit einem Türklopfer aus Messing. Declan betätigte den Klopfer, da zog der Junge ihn am Ärmel. »Ihr könnt jetzt bezahlen.«
»Wenn ich sicher bin, dass Polio wirklich hier wohnt.«
Gleich darauf öffnete eine dunkelhäutige Frau die Tür. Die Frau sah dem Schneider, den Declan suchte, so ähnlich, dass jede weitere Frage unnötig war. Er schnippte dem Burschen die Silbermünze zu. Der Junge fing sie aus der Luft, biss einmal darauf, um sich von der Echtheit zu überzeugen, und verschwand im Laufschritt die Straße runter.
»Kann ich Euch behilflich sein?«, fragte die Frau.
»Ich würde gern Euren Sohn sprechen, Gnädigste, den Schneider Polio.«
Sie runzelte die Stirn. »Wenn Ihr wegen einer Erstattung kommt, verschwendet Ihr nur eure Zeit. Das Geschäft liegt in Trümmern. Nichts ist übrig geblieben. Er besitzt nichts mehr, was er irgendwem geben könnte.«
»Ganz im Gegenteil, Gnädigste. Ich bin hier, um ihm Geld zurückzuzahlen, das ich ihm schulde. Ist er zu Hause?«
Sie beäugte Declan misstrauisch und überlegte. Schließlich nickte sie und trat beiseite, um ihn einzulassen. Der Flur erwies sich als klein, dunkel und vollgestopft mit, wie Declan annahm, allem, was Polio aus seinem zerstörten Geschäft hatte retten können. Die Frau führte ihn nach hinten durch bis in die Küche, wo Polio an einem Tisch saß und sich an einem dampfenden BecherTee festhielt. Schlank, dunkelhäutig und normalerweise untadelig gekleidet, hockte der Schneider jetzt unrasiert und zerlumpt mit hängenden Schultern da. Er sah verdrossen hoch, als Declan die Küche betrat, dann machte er vor Überraschung große Augen, als er erkannte, wer sein Besucher war.
»Gezeiten! Ich hatte nicht erwartet, Euch wiederzusehen«, rief er und sprang auf. »Ich hörte, Ihr seiet tot.«
»Nur ein böswilliges Gerücht, das meine Feinde in Umlauf gebracht haben«, erwiderte Declan lächelnd, während er zur Begrüßung die Hand des Schneiders drückte. »Ich habe Euer Geschäft gesehen. Was ist passiert?«
»Das war ein furchtbares Unwetter«, sagte Pollos Mutter, ehe ihr Sohn zum Antworten kam. »Tagelang hat es gewütet. Hat die Hälfte aller Ladenbesitzer auf der Seeseite ruiniert.«
Polio nickte zustimmend. »Es war schlimmer als ein Hurrikan. Wirbelstürme ziehen wenigstens weiter. Dieser Orkan hat einfach tagelang über der Stadt getobt, als hätte er eine Rechnung zu begleichen.«
»Ein Orkan? Um diese Jahreszeit?«
Polio wandte sich seiner Mutter zu. »Könntest du uns für ein Weilchen allein lassen, Mutter? Dieser Herr und ich haben etwas Geschäftliches zu besprechen.«
Pollos Mutter sah Declan abwägend an, bevor sie antwortete. »Er hat gesagt, er schuldet dir Geld. Stell sicher, dass er die Schuld begleicht, bevor er geht.« Damit raffte sie ihre Röcke, rauschte hinaus , und ließ sie allein.
Polio schloss die Tür hinter ihr und wandte sich Declan zu. »Habt Nachsicht mit Mutter. Tee?«
Declan schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Erzählt mir von dem Unwetter.«
»Es war nicht natürlich«, sagte Polio und nahm seinen Platz an dem schäbigen Holztisch wieder ein. Mit einer Handbewegung gab er Declan zu verstehen, sich ebenfalls zu setzen. »Und es endete so plötzlich, wie es anfing.«
»Wer war es?« Weitere Erklärungen erübrigten sich. Polio war Mitglied der Bruderschaft des Tarot. Er wusste so gut wie Declan, was die wahrscheinlichste Ursache war, wenn es bei steigenden Gezeiten unerklärliche Wirbelstürme gab.
»Schwer zu sagen«, antwortete Polio mit einem Schulterzucken. »Ich bezweifle, dass es Brynden war. Er pfuscht für gewöhnlich nicht auf diese Art mit dem Wetter herum.«
Declan war sich da nicht so sicher. »Das letzte Weltenende fand statt, weil er einen Meteor ins Meer schleuderte«, rief er dem Schneider in Erinnerung. »Es ist ihm durchaus zuzutrauen.«
Polio schüttelte den Kopf. »Damals hatte er einen Grund. Nein, ich glaube, es war einer
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