Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
Wie verzweifelt die Sterblichen auch immer um Hilfe schreien mochten, der Sturm verschluckte auf Anhieb jeden Laut.
»Ich weiß, dass Ihr da drinnen seid!«, brüllte er und benutzte die Gezeiten, um seine Stimme so zu verstärken, dass sie ihn noch durch das Tosen des Sturmes hören mussten.
Keine Antwort. Das überraschte ihn nicht. Im Grunde war er froh darüber. So kurz vor dem Höchststand der kosmischen Flut war es reinste Ekstase, die Gezeiten durch seine Adern toben zu lassen. Einen solchen Rausch hatte er bestimmt seit tausend Jahren nicht mehr erlebt. Dies war die wahre Essenz dessen, was es hieß, ein Gezeitenfürst zu sein. Dies war die Pracht und Herrlichkeit, die Verlockung unbegrenzter Macht.
Ohne ein weiteres Wort schlug er die Tür aus ihren Angeln und setzte das Innere der Gaststube damit dem Unwetter aus. Dann trat er ein und sah sich um. Ein paar verlebte alte Bergarbeiter kauerten in einer Ecke. In einer anderen stand der einarmige Schankwirt, Clyden Bell, seinen Arm schützend um einen vielleicht fünfzehnjährigen Burschen gelegt, der eine Schürze trug und heillos verängstigt dreinschaute.
Keine Spur von Arkady und ihrem Vater.
Schluss mit den Höflichkeiten. »Ich weiß, dass du hier irgendwo steckst, Arkady.« Wieder löste sich ein Stück Dach und setzte den Schankraum vollends dem Eisregen aus. »Komm jetzt raus, dann muss ich niemanden töten!«
Keine Antwort. Jaxyn fragte sich, ob er Arkady falsch eingeschätzt hatte. Hatte sie ihn etwa schon wieder ausgetrickst? Er war bereits kurz davor, das für möglich zu halten, da ließ der junge Bursche die Katze aus dem Sack. Ängstlich blökte er: »Sie sind nicht hier, wir haben sie nicht gesehen!«
»Ich habe euch gar nicht gefragt, ob ihr sie gesehen habt«, gab Jaxyn mit einem bösen Lächeln zurück. Gleichzeitig löste sich das nächste Stück Dach und flog davon.
Clyden Bell wirkte starr vor Schreck, der Bursche noch mehr. Die Bergarbeiter in der anderen Ecke schlotterten vor Angst.
»Der Junge stirbt zuerst, Arkady«, rief Jaxyn. »Aber erst, nachdem ich ihn in die Mangel genommen habe. Wollt Ihr seinen Schreien lauschen, während ich meinen Spaß habe, oder kommt Ihr raus und setzt dem Ganzen ein Ende?«
»Wagt es, Hand an den Knaben zu legen …«, setzte Clyden an und wagte sich tapfer einen Schritt vor.
Jaxyn wartete das Ende der Drohung nicht ab. Mit der Kraft eines Gedankens hob er Clydeti hoch und schleuderte ihn mit solcher Wucht gegen die gemauerte Feuerstelle, dass er das Bersten seiner Knochen noch über das Unwetter hinweg hören konnte. » Wagt es, Hand anzulegen – und das aus deinem Mund, wirklich sehr amüsant.«
Der junge Bursche schrie in hellem Entsetzen, als Clydens zerschmetterter Körper schlaff zu Boden fiel. Jaxyn scherte sich nicht um ihn. Er breitete die Arme aus und brüllte in den Sturm, der nach und nach das Dach des Gasthauses abdeckte: »Seht doch, was Ihr angerichtet habt, Arkady. Tod, Verderben, Zerstörung. Alles Eure Schuld! Ihr habt mich dazu gebracht.«
»Lügner.«
Er drehte sich um. Arkady stand hinter ihm. Sie und ihr Vater mussten sich unter einem der Tische nahe der Tür versteckt gehalten haben. Er lächelte und ließ das Unwetter abklingen. Selbst ein Gezeitenfürst brauchte einen klaren Kopf, wenn er sich mit dieser Frau zu befassen hatte. Ihr Vater kam neben ihr mühsam auf die Füße. Arkady trat einen Schritt vor.
Obwohl durchnässt und durchgefroren, wirkte sie ungebrochen. Mit beachtlicher Härte schlug sie ihm ins Gesicht, ihre Augen glänzten vor unvergossenen Tränen.
»Noch mal«, sagte er anzüglich grinsend. Der Sturm verlor rasch an Kraft, seit er die Gezeiten losgelassen hatte. »Fester.«
»Ihr macht mich krank.«
»Und Ihr macht mir Arbeit – der ganze lange Weg hierher für nichts und wieder nichts«, sagte er und musterte die bleiche, zitternde Gestalt hinter ihr. Bary Morel wirkte apathisch, die Kälte hatte seinen Kampfgeist restlos besiegt. »Das hat dem alten Mann bestimmt nicht gutgetan. Und nun habt Ihr auch noch Euren alten Freund auf dem Gewissen«, ergänzte er mit einem Seitenblick auf die Leiche von Clyden und seinen schluchzenden Lehrling. Arkady antwortete nicht, was ihn ein wenig enttäuschte und ärgerte. Sein Blut prickelte, als die Gezeiten vollends abflössen, seine Haut brannte und seine Muskeln krampften von einem Überdruck, den er dringend loswerden musste.
Eine ganze Weile lang starrte er Arkady abwägend an und wog die
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