Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
König Enteny und Königin Inala beseitigt hatte. Er lächelte in sich hinein, dirigierte das Pferd durch das Tor und ritt im Trab davon. Die Temperatur fiel stetig.
Während Jaxyn unter dem rasch dunkler werdenden Himmel dahinritt, eilte ihm sein Unwetter dorthin voraus, wo Arkady und ihr Vater mit Sicherheit Schutz suchen würden – zu Clydens Gasthaus, der Heimstatt dieses lästigen einstigen Grubenknechts und jetzt einarmigen Wirts. Ein Treffpunkt, wo man leichter an Gerüchte als an Gerichte kam. Der einzige Ort in der Umgebung des Palasts von Lebec, den Arkady und ihr Vater binnen weniger Stunden erreichen konnten. Vielleicht irrte er sich. Sie konnten auch versucht haben, querfeldein die Stadt zu erreichen, aber er bezweifelte das. Arkady mochte es nichts ausmachen, im tiefen Schnee durch die Gegend zu stapfen, aber ihr Vater war kein junger Mann mehr. Auch wenn Jaxyn ihn nach seinem Selbstmordversuch geheilt und ihm dabei vermutlich den besten Gesundheitszustand seit Jahren beschert hatte, war der Alte lange im Kerker gewesen. Bary Morel hatte gewiss nicht das Durchhaltevermögen für eine Querfeldeinreise, und Arkady würde nie das Risiko eingehen, dass er vor Erschöpfung zusammenbrach oder an Unterkühlung starb.
Nein, resümierte Jaxyn, der sicherste Hafen ist der am leichtesten erreichbare. Clydens Gasthaus.
Als die Weggabelung in Sicht kam, tobte das Unwetter, so begrenzt es auch sein mochte, bereits mit einen Durcheinander aus Schnee, Graupel, Regen und Eis. Die Sichtweite betrug nur noch ein paar Fuß. Sturmböen trieben den Schnee fast horizontal über den Weg. Die Kälte war nahezu todbringend für jeden Sterblichen, der ohne Schutz in dieses Chaos geriet. Die Bäume am Wegesrand bogen sich so tief herab, dass sie nach Jaxyn zu greifen schienen, als er vorbeiritt. Einen flüchtigen Augenblick lang fragte er sich, wie viel zusätzlichen Schaden er wohl gerade anrichtete. Würden die Felder nach dem Abklingen des Sturms mit toten Crasii übersät sein, die der Wettereinbruch überrascht hatte?
Jaxyn hoffte nicht. Es wäre verdammt ärgerlich, gut arbeitende Bauern zu verlieren, bloß um Arkady und ihren elenden Vater aus dieser Kaschemme zu holen.
Das Gasthaus und seine Umgebung steckten im Zentrum des wütenden Schneesturms, als Jaxyn eintraf. Er stieg ab und dehnte seinen magischen Wetterschutz vorsorglich auf das Reittier aus. Wenn das Pferd zu Tode kam, musste er zu Fuß zum Palast zurückkehren, wozu er nicht die geringste Lust verspürte. Brüllend heulte der Wind ums Haus. Die Luft war weiß, und die Gezeiten kribbelten in jedem einzelnen seiner Nerven. Wenn Arkady wirklich hier war, gab ihm das vielleicht Gelegenheit, nachher seinen Überdruck loszuwerden, indem er sie sich vorknöpfte. Der Gedanke erschien ihm jedoch bei Weitem nicht mehr so reizvoll wie einst. In der gegenwärtigen politischen Lage war Arkady für ihn nur von Wert, solange sie wohlauf und unversehrt blieb. Das war auch der Hauptgrund gewesen, warum er sich auf den Hausarrest im Palast für sie und ihren Vater eingelassen hatte. Sie zu vergewaltigen, nur um dem sexuellen Druck der Gezeitennachwehen ein Ventil zu verschaffen, würde ihn ganz unnötig seinen Trumpf kosten. Stellan hatte Jaxyn bereits einmal damit überrascht, wie weit er zu gehen bereit war, wenn er sich verraten fühlte. Wer konnte sagen, wozu er fähig war, wenn er Arkady geschändet zurückbekam – und das von demselben Liebhaber, der ihn zuvor schon so verletzt hatte?
Ein Eckstück des Schindeldachs knatterte erbarmungslos im Wind. Sturmböen aus Eisregen geleiteten Jaxyn zum Eingang der Gaststube. Er hämmerte mit der Faust gegen die Tür, doch sie blieb fest verschlossen. Das sagte alles: Sterbliche würden niemals einen einsamen Reisenden in so einem Schneesturm verrecken lassen.
Folglich wussten sie also, dass der Reisende, der da an die Tür hämmerte, nicht verrecken konnte.
Und das hieß, dass sich da drinnen etwas oder jemand befand, das oder den sie vor ihm beschützen wollten.
Jaxyn holte tief Luft. Die Gezeiten brandeten um ihn herum auf. Der Sturm legte noch mehr zu und die Temperatur sank noch weiter. Scharfer Eisregen prasselte herab wie Geschosse und schälte die Rinde von den ungehobelten Baumstämmen, aus denen das Gasthaus gebaut war. Im nächsten Augenblick riss eine Bö die lockere Dachecke weg, und die Dachbalken darunter wurden freigelegt. Jaxyn glaubte drinnen einen Aufschrei zu hören, doch das konnte auch Einbildung sein.
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