Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
Altwerden.
Wir hatten schon früher – schon unzählige Male – spekuliert, ob man seinen Geist in einen anderen Körper transferieren könnte. Lukys begann die praktische Seite dieser Frage zu erforschen. Irgendwann verkündete er, er glaube, eine mögliche Lösung gefunden zu haben. Coryna wollte es gern ausprobieren. Ich nehme an, das gab ihnen auch so etwas wie ein Ziel. Eine Art Zeitvertreib, wenn ihr so wollt, ein Geduldsspiel für die zahllosen Mußestunden der unzähligen Äonen …
Ich weiß, was ihr denkt. Ich kann es euch ansehen. Da wir schon unsterblich sind, leben wir bereits in unzerstörbaren Körpern. Wozu sollen wir unsere Gestalt verändern? So denkt ihr nur, weil ihr ganz von der kurzen Lebenszeit bestimmt seid, die ihr erst hinter euch habt. Lebt mal ein paar Millionen Jahre länger. Irgendwann fragt ihr euch, ob es noch etwas anderes zu erleben gibt. Dann werdet ihr die Versuchung verstehen. Wie wäre es, einige Zeit in einem Körper anderen Geschlechts zu verbringen – nur um zu erfahren, wie sich das anfühlt? Oder die Welt als Tier zu erleben? Oder als ein Geschöpf, das an völlig andere Lebensbedingungen angepasst ist als ihr, sodass die Wahrnehmung des gesamten Universums sich erweitert?
Mit solchen Gedanken schlagen sich unsterbliche Geister herum, die man zu lange sich selbst überlässt.
Manche von uns werden verrückt.
Manche von uns fangen an zu experimentieren.
Wir hatten, wie gesagt, ausgiebig spekuliert über den Transfer des Bewusstseins von einem Körper in einen anderen. In der Theorie klang es plausibel. Die Umsetzung in die Praxis erwies sich allerdings als etwas verzwickter.
Will man den Geist aus dem Körper eines Unsterblichen in einen anderen transferieren, so hat man zunächst das Problem, dass man nicht den Körper eines anderen Unsterblichen benutzen kann. Selbst wenn man jemanden fände, der bereit ist, sein Bewusstsein aufzugeben, um Platz für ein anderes zu machen: Derselbe magische Schutz, der einen Unsterblichen vor dauerhaftem Schaden bewahrt, verhindert auch den Transfer. Obwohl wir also eine Methode ersonnen hatten, wie man den Transfer durchfuhren könnte, blieb immer noch die Frage ungelöst, wohin wir das Bewusstsein übertragen sollten.
Die naheliegendste Antwort war, einen sterblichen Geist zu nehmen, aber mit einem sterblichen Geist geht ein sterblicher Körper einher. Wir, die wir ewig leben wollen, sind jedoch nicht bereit, für eine kurze Zeitspanne des Glücks in einer anderen Gestalt gleich unser Leben dranzugehen. Und wir haben in schmerzlichen Lektionen gelernt, dass es kein Zurück gibt.
Diesen legendären Meteor, der Engarhods Schiff vor Jelidien so schön zweckdienlich traf, dass nur er, Lukys und die Ratte überlebten, den hat es nie gegeben. Dieses Märchen hat Lukys rasch zusammengesponnen, als Engarhod wieder zu Bewusstsein kam. Und da er bloß ein simpler Fischersmann war, hat der Gute ihm jedes Wort abgekauft – dabei hat doch Lukys’ Pfuscherei ihn unsterblich gemacht und das Schiff zerstört. Da sieht man, wie leichtgläubig Engarhod und Syrolee sind: Sie haben die Geschichte damals geschluckt, und sie sind seitdem nie auf den Gedanken gekommen, sie infrage zu stellen.
Die Wahrheit ist wesentlich einfacher. An den magnetischen Polen wirken die Gezeiten am stärksten, wobei ich glaube, dass nicht einmal Lukys genau weiß, warum das so ist. Jedenfalls musste er in die Nähe des Pols, um die Übertragung von Corynas Bewusstsein in einen neuen, jüngeren Körper zu versuchen.
Damals herrschte kosmische Flut. Er, Maralyce und Coryna hatten jahrhundertelang Stammbäume studiert, Pläne geschmiedet und herumexperimentiert und dachten nun, dass sie alles beieinander hätten. Engarhod wurde meines Wissens einzig und allein deshalb mitgenommen, weil sie einen fähigen Seemann brauchten – einfach nur ein Mann, der zur falschen Zeit am richtigen Ort war.
Coryna war als Köchin an Bord, und der Körper, den sie als Ersatz für sie ausgewählt hatten, kam natürlich auch mit – als Lukys' wahrscheinlich völlig ahnungslose Geliebte. Ihr Name war Taya, wenn ich mich recht erinnere. Sie war Lynas Schwester, falls euch das interessiert, was übrigens einer der Gründe ist, warum ich dieses Weib immer so verdammt anziehend fand. Vielleicht macht die Vorstellung, dass sie Coryna hätte sein können, sie besonders begehrenswert. Aber vielleicht habe ich auch nur Spaß daran, Lukys seinen Fehlschlag unter die Nase zu reiben …
Es ist
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