Falsch
schmal und mit einem dichten, dunklen Haarschopf, der sich immer die vorwitzigen Strähnen aus dem Gesicht strich. Als er bei Heinkel mit der Ausbildung begonnen hatte, waren seine jüngeren Brüder auf Kinderlandverschickung in den Norden gebracht worden. Dann kamen nur noch Katastrophennachrichten von zu Hause. Sein Onkel hatte sich irgendwo in der Tschechei erschossen, sein Vater war zwei Monate danach wohl an gebrochenem Herzen gestorben. Seine Mutter, die feingeistige Pianistin, hatte sich an einer Klaviersaite erhängt, eines Abends, als die SS durch die Häuser stürmte und Wohnungstüren zertrümmerte. Von den Geschwistern fehlte jede Spur. Willi war nicht daran zerbrochen, er war nur leiser und leiser geworden. In den letzten Wochen hatte er einen nervösen Tick entwickelt: Sein rechtes Auge zuckte immer öfter.
Paul ist wahrscheinlich noch der Härteste und Ausgeglichenste von uns allen, überlegte Franz. Den schlaksigen, blonden Sohn eines Universitätsprofessors und einer Operettensängerin aus Berlin konnte nichts aus der Ruhe bringen. Das Mathematikgenie, das sich bereits in der Schule gelangweilt und während des Unterrichts unter der Bank unmögliche Formeln gelöst und damit die Lehrer zur Verzweiflung getrieben hatte, konnte sich bei Bedarf völlig aus der Realität ausklinken. Er schien immer zwei Züge im Voraus zu planen, alles abzuwägen und stets auf das Unmögliche vorbereitet zu sein.
Und ich?, dachte Franz. Was ist von meinen Idealen noch übrig? Messerschmitt hat fast die gesamte Produktion in unterirdische Anlagen verlegen müssen, die Amerikaner stehen am Rhein und in Italien, die Russen drängen unaufhörlich aus Osten vor. Die meisten meiner Freunde sind tot, gefallen irgendwo zwischen Charkow und den Ardennen, dem Kattegatt und El Alamein. Und jetzt sitze ich ohne Papiere in einem Lastwagen und versuche zu flüchten … Alles vorbei, noch bevor es richtig begann.
Franz schaute in den Rückspiegel. Willi hatte sich vorgelehnt und suchte die Umgebung ab, Paul blätterte in den Pässen. Ich wäre ohne die drei schon längst tot, dachte er, ich hätte mich bereits vor Wochen erschossen oder aufgehängt, in einer dunklen Ecke des Lagers.
»Da vorn ist der Laden!«, rief Willi plötzlich von der hinteren Sitzbank und wies mit ausgestrecktem Arm auf ein niedriges, weißgestrichenes Haus mit grünen Fensterläden. Auf einem handgemalten Schild, das über der niedrigen Eingangstür hing, prangte eine Alpenszene und darunter, über einer stilisierten Kamera: Josef Altmeyer, Fotograf und Verlag .
Franz fuhr langsam an dem kleinen Atelier vorbei, parkte den LKW schließlich in einer Einfahrt etwas abseits und stellte den Motor ab. »Hoffen wir, dass der Meister sofort Zeit hat und die Bilder gleich anschließend entwickeln kann«, meinte er. »Bis dahin sollte sich jeder einen Namen überlegen, den er in den Pass einträgt.«
»Warum können wir nicht unsere richtigen Familiennamen verwenden?«, fragte Ernst, schüttelte aber gleich darauf niedergeschlagen den Kopf. »Tut mir leid, blöde Frage.«
»Nimm einen Teil deines Namens und setze einen anderen dazu«, regte Paul an. »Das haben schon viele Künstler in den zwanziger Jahren gemacht. Oder suche einen in der Geschichte deiner Familie. Geburtsnamen der Großmutter, Mädchennamen der Mutter. Viele Möglichkeiten.«
»Gute Idee«, gab Ernst zu und schaute gleich viel glücklicher drein.
»Wir behalten die Vornamen, das ist sicherer«, warf Willi ein. »Wenn uns jemand ruft, und wir drehen uns nicht um, dann wird es auffällig.«
»Abgemacht«, nickte Franz. »Jetzt macht euch schön, ich will keine Fahndungsbilder in den neuen Diplomatenpässen sehen.«
»Dann ist bei Paul schon Hopfen und Malz verloren«, lästerte Willi.
»Blödmann!«, gab Paul zurück. »Schau lieber mal in den Spiegel, du Hungerhaken.«
Franz musste grinsen. »Und jetzt los, Willi und ich bleiben hier und bewachen den LKW . Wenn ihr zwei fertig seid, dann wechseln wir uns ab. Lauft besser alle kurz unter einem Kamm durch, anstatt mit dem schmutzigen Finger auf andere zu zeigen. Ihr seid allesamt keine Gigolos in Uniform.«
»Da spricht der Richtige«, murmelte Ernst, nahm Paul am Arm und zog ihn hinter sich her. Einen Augenblick später öffnete er die grüne, etwas windschiefe Tür zu Josef Altmeyers Reich, rief ein lautes »Grüß Gott!« und – blieb wie vom Blitz getroffen stehen.
Drei SS -Männer in Uniform, die Kappen mit den Totenkopfkokarden unter
Weitere Kostenlose Bücher