Falsche Brüder
verschloss.
Dann packten mich Verzweiflung und eine unbändige Wut.
Am liebsten wäre ich zu den Werfern gestürmt und hätte Salve
um Salve über den Fluss gejagt. Doch dann hüllte mich
zunehmend Hoffnung ein. Sie lebt doch! Wollten sie töten, sie
hätten es leichter gehabt. Die Anatomiestudien sind vorbei.
Dagmar lebt! Und ich wusste, dass man etliche Menschen in
Sanatorien untersuchte, in der Hoffnung, diesen künstlichen
Idiotismus zu löschen. „Ich werde, ich muss Dagmar finden!“
Ich stand vom Lager auf, bekam einen Schwindelanfall, hielt
mich am Zeltgestänge fest, bevor ich ins Freie kroch. „So groß
ist das besetzte Gebiet nicht“, dachte ich, „dass ein solches
Vorhaben von vornherein aussichtslos wäre. Kärleinen wird
Verständnis für mein Anliegen haben, wird mich ziehen lassen.“
Draußen empfing mich ein kühler Morgen. Ein schreiender
Gegensatz zur Unfrische, die mich beherrschte. Mein
Kopf
schien mir zu groß, die Beine knickten ein, und im Magen hatte
ich ein flaues Gefühl.
Über dem Fluss lag Dunst.
Es herrschte gewöhnliches Lagerleben.
Ich war mir sicher, dass Hugh auf mein Aufstehen gewartet
hatte; denn er trat auf mich zu, kaum dass sich die blinzelnden
Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten.
„Du sollst zu Kärleinen kommen. Der gestrige Termin ist ja
leider ausgefallen. Er nimmt das nicht krumm. Wie hast du
geschlafen, Igor?“ Doch das war eine Routinefrage.
Ich machte mich einigermaßen frisch, ging zum Stabszelt
und ließ mich melden. Nur schwerfällig nahm
mein
gemarterter Kopf wahr, dass bestimmte Riten, die ich in Rostock
zum ersten Mal kennen gelernt hatte, ihren Weg bis zur Front
gefunden hatten – in kurzer Zeit.
Kärleinen empfing mich loyal. Als ich eintrat, warf er mir
einen sehr prüfenden Blick zu, und ein Lächeln spielte kurz um
seinen Mund.
Er trat auf mich zu, reichte mir die Hand und sagte: „Ich
habe – gehört. Es tut mir Leid, Igor!“
Wie er das sagte, machte ihn mir augenblicklich sympathisch.
„Nimm Platz!“
Ich riss mich zusammen. Erneut überkam mich ein
Schwindelgefühl. Ich setzte mich in den Feldstuhl.
„Ich will nicht darum herumreden. Fühlst du dich wohl genug,
Igor, wichtige Order entgegenzunehmen?“
Als ich nickte und mich um einen ob der Frage verwunderten
Gesichtsausdruck bemühte, sagte er: „Gut
– du hast
dich
unverzüglich als – Kundschafter ins besetzte Gebiet zu begeben
und uns alle erdenklichen Informationen über sie zukommen zu
lassen.“
Mich durchströmte Freude, und es war, als fiele alle
Benommenheit von mir ab.
Mein Gegenüber hatte mir diese Regung sofort angesehen.
„Keine Emotionen, Igor. Dein Auftrag lautet: Den Gegner
auskundschaften, nicht Dagmar suchen…“ Er wischte eine
Erwiderung weg. Sein Gesicht und seine abwinkende Hand
deutete ich: Mach was draus… Was er noch sagte, bestätigte
die Deutung: „Du bekommst einen Minisender und meldest dich
über diesen Kode.“ Er reichte mir ein Kärtchen mit Ziffern und
Buchstaben und einigem erläuternden Text. Dann schob er mir
eine handliche Pistole und eine flache Büchse mit
Hochnährkonzentrat zu.
„Das ist alles, Igor, was ich dir auf den Weg geben kann. Mir
gegenüber hast du den Vorteil, dass du schon einmal einen von
ihnen in Natura gesehen hast. Wir kennen sie nicht, können dir
demzufolge keine Verhaltensregeln geben, entscheide nach der
Situation.“
Kärleinen brühte einen Kaffee. Wir schlürften das heiße Getränk
behaglich, mir wurde zunehmend wohler.
Wir schwiegen eine lange Zeit.
„Darf ich Sven mitnehmen?“, fragte ich.
„Auch das liegt in deinem Ermessen. Ich weiß aber nicht, ob
es klug ist…“
„Was schon ist heute klug, und wer weiß es…“, dachte ich.
In ungezwungenem Gespräch ließ sich Kärleinen von mir
über meine Erfahrung mit den Geschosswerfern informieren,
fragte mich – nur noch halb dienstlich – über meine Eindrücke
vom Stab in Rostock aus, und er wünschte mir schließlich, als
er mich verabschiedete, voll Aufrichtigkeit viel Glück.
Ein wenig glücklich war ich in der Tat, als ich das Stabszelt
verließ. Ich hatte mein Anliegen gar nicht vorzubringen
brauchen, es hatte sich gefügt, was ich mir seit dem Erwachen an
diesem Morgen gewünscht hatte.
Nach dem Mittagessen ergab sich Gelegenheit, mit Sven und
Hugh über die neue Situation zu sprechen. Hugh brachte sein
äußerstes Bedauern zum Ausdruck, dass er nicht mit von der
Partie sein konnte. Man hatte ihn zum
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