Falsche Nähe
nicht.
Machen wir uns nichts vor: Im Augenblick habe ich nur einen einzigen Leser, eine Leserin, um genau zu sein, deshalb wende ich mich jetzt direkt an dich. Ich weiß, du hast viele Fragen. Eine meiner Antworten lautet: Ghoul. So hieß das Kostüm. Ein Grusel-Schnäppchen aus dem Internet. Da gibt es ja bekanntlich alles, was das Herz begehrt: Samuraischwerter, Anleitungen zum Kopfabhacken, Luminol. Du ahnst, wovon ich rede. Mein Auftritt hat dir nicht gefallen, ich weiß, aber ich fand ihn gelungen, äußerst passend zum Thema Halloween. Die Nacht der Lebenden Toten.
Nur zur Erklärung: Ein Ghoul ist ein leichenfressender Dämon, manche glauben sogar, es sei der Teufel selbst. Zu seiner Vervollkommnung benötigt er eine Ghula, die Reisende in die Wüste lockt, um sie dort zu verspeisen. Wüste – klingelt da was? Irgendwie passt alles so herrlich zusammen, nicht wahr? Alles andere wird passend gemacht. Ein düsteres Buch schreiben heißt das Feuer der Angst schüren, bevor es verlischt.
Um auf das Grundmotiv der Reiter zurückzukommen: Eine Blumenverkäuferin und ein unterprivilegierter Teenager sind erledigt, macht zwei von vier. Nummer drei habe ich mir schon ausgesucht. Sie ist – schade, schade – gerade frisch verliebt und auf der Suche nach ihrer eigenen Identität, was in dem Alter typisch ist.
Ein nettes Mädchen. Ganz ehrlich: Es tut mir sogar ein bisschen leid um dich, aber ich kann es mir einfach nicht länger gefallen lassen, wie du dich in alles einmischt. Ich habe dich immer gemocht. Aber jetzt bist du zu weit gegangen. Auf der Insel magst du mir entkommen sein, aber die Stadt, in die du jetzt zurückkehrst, ist mein Revier.
Entfesselt
U nd du hast keine Idee, wer das gewesen sein könnte?«
Noa schüttelt den Kopf. »Woher denn?«
»Wie groß war er?«
»So groß wie du. Ungefähr.«
»Und der Körperbau?«
»Wie deiner.«
»Noa!«
»Was – Noa?«
»Was soll der Mist? Willst du allen Ernstes behaupten, dass du mich für verdächtig hältst, dich in ein Gebüsch gezerrt zu haben, um dich zu würgen?«
»Ich versuche lediglich dir klarzumachen, dass es jeder hätte sein können. Jeder kräftige Kerl mit einem schwarzen Umhang. Sogar du.«
Es ist nicht das erste Mal, dass sie die Sache durchkauen. Seit letzter Nacht reden sie über nichts anderes. Oder sie schweigen sich an, weil sie beide zu erschöpft sind, um weiterzumachen. Wie jetzt.
Verbissen heftet Moritz seinen Blick auf die Straße. Festland. Längst haben sie die Fähre hinter sich gelassen und rasen über die Autobahn. Da kaum Verkehr ist, nutzt Moritz seine Chance, den Wagen auszufahren. Noa sieht ihm an, wie viel Vergnügen ihm die Fahrt bereitet, und das nimmt sie ihm übel. Sie könnte tot sein, reine Glückssache. Und er absolviert Formel-Eins-Rennen gegen imaginäre Gegner, als wäre nichts gewesen. Was sie nicht aussprechen mag, Moritz jedoch spüren lässt: Sie gibt ihm eine Mitschuld an dem, was passiert ist. Zum einen war es seine Idee, überhaupt auf diese furchtbare Halloween-Party zu gehen, zum anderen hat er sich dort nicht richtig um sie gekümmert. Was nützt eine männliche Begleitung, wenn man im Ernstfall doch allein dasteht?
»Du hast das Phantom wirklich nicht auf der Tanzfläche gesehen?«, hakt sie nach.
»Nein, ich schwöre. Da waren Hunderte in schwarzer Kluft. Außerdem habe ich versucht, an der Bar durchzukommen. Du hast doch gesehen, was da für ein Heidengedränge war.«
»Hast du denn nicht auf mich geachtet?«
Schulterzucken.
»Das wäre nämlich deine Aufgabe gewesen, erinnerst du dich?«
» Du wolltest unbedingt noch einen Drink«, erinnert er sie.
Noa dreht den Kopf zur Seite. Felder und Wiesen bis zum Horizont. Nichts, woran das Auge sich klammern könnte, nicht die kleinste Erhebung. Land unter dem Meeresspiegel. Auch der Himmel hängt tief, in strukturloses Grau gehüllt.
Natürlich bemitleidet sie sich selbst, und sie findet, sie hat auch allen Grund dazu. Das Trauma der Nacht – nicht bloß der brutale Übergriff des Unbekannten, sondern auch das Verhalten der Polizei im Anschluss daran – haben Spuren hinterlassen. Sie hätte keine Anzeige erstatten sollen.
Es war nicht ihre Idee, die Jungs vom Lagerfeuer, ihre Retter, haben darauf bestanden. Leider hatten die milchgesichtigen Beamten auf der Wache nichts Besseres zu tun, als sie wie ein Flittchen mit Alkoholproblem zu behandeln. Ihre halbherzige Befragung der Partygäste im Haus des Kurgasts blieb ohne Erkenntnisse –
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