Falsche Nähe
wie nicht anders zu erwarten war. Und nicht mal Noas eigener Freund sah sich in der Lage, ihre Schilderungen zu bestätigen. In einer schier endlosen Gedankenschleife durchlebt sie das Geschehen wieder und wieder.
»Entschuldige, dass ich’s versemmelt habe«, sagt Moritz, als sie an einer Raststätte im Nirgendwo Milchkaffee trinken und legt seine kühle Hand in ihren Nacken.
»Hast du auch.«
»Ich mache es wieder gut.«
»Okay.«
Er überredet sie zu einem Müsliriegel, behandelt sie wie eine Magersüchtige. Sie hätte viel zu wenig gegessen, die Fischbrote beim Buchhändler ihre letzte vernünftige Mahlzeit. Was nicht stimmt, beim Frühstücksbüffet im Hotel hat Noa ordentlich zugelangt. Seinerseits fällt die Wahl auf Chili con Carne, er hält ihr das Tablett unter die Nase, als wollte er sie animieren. Dabei ist noch nicht mal Mittag. Egal, er kann es sich erlauben, hager wie er ist. Sie zieht ihn trotzdem damit auf.
Moritz verschlingt seine nicht gerade kleine Portion mit Appetit, während Noa lustlos an ihrem Riegel herumknabbert und beobachtet, wie sich draußen auf dem Parkplatz eine Schar von Krähen auf den kahlen Ästen einer Eiche niederlässt und allein durch ihre Anwesenheit Tauben und Spatzen vertreibt.
Ihr graut davor, nach Hause zurückzukehren. Sie hat nicht die geringste Vorstellung davon, wie es mit ihr und Audrey weitergehen soll.
Um sich abzulenken, fängt sie ein Gespräch über die Schule an. Moritz, ihres Kummers überdrüssig, steigt sofort darauf ein. Sie vergleichen die Angebote seines Harburger Gymnasiums mit ihrem und stellen fest, dass sie es beide gut getroffen haben und dass ihnen, auch wenn sie manche ihrer Lehrer verachten, der bevorstehende Abschied vom vertrauten Trott des Schulalltags insgeheim zu schaffen macht. Als er von ihren beruflichen Plänen hört, gibt sich Moritz geschockt.
»Und was ist mit mir, wenn du tatsächlich zur See fährst?«
»Du bleibst an Land.«
»Und ich hatte gehofft, wir könnten zusammen an die Uni gehen.«
»Du weißt doch noch nicht mal, was du studieren willst.«
»Aber ich weiß, mit wem.«
Noa antwortet nicht. Wie kann er sich so sicher sein? Sie würde gern das Gleiche von sich behaupten, aber das wäre eine glatte Lüge. Mehr als alles andere ist sie verwirrt. Eine neue Liebe, geboren im Chaos. Sie sollte überglücklich sein, bloß so einfach funktioniert das nicht. Moritz bedeutet ihr viel, kein Zweifel, aber die Rahmen bedingungen unter denen sie zusammengekommen sind , setzen ihr dermaßen zu, dass sie keine Prognose über die Zukunft abzugeben wagt. Allein die Grundkonstellation: sein Vater als erster ernstzunehmender Lebenspartner ihrer Schwester. Sein äußerst unsympathischer Vater wohlgemerkt. Wie wäre eigentlich ihr formaler Status zueinander: Stiefgeschwister? Wahrscheinlich gibt es für diese Version einer Patchwork-Familie keinen Präzedenzfall.
»Du bist genau wie Audrey, weißt du das?«, fragt Moritz unvermittelt.
Noa, die davon überzeugt ist, in vielerlei Hinsicht eher das Gegenteil ihrer Schwester darzustellen, schüttelt den Kopf. »Wie kommst du darauf?«
»Du machst dir viel zu viele Gedanken. Das sehe ich dir an der Nasenspitze an. Du bist total sensibel und versuchst ständig, das zu verschleiern, indem du dich sofort in dich selbst zurückziehst, sobald dir jemand zu nahe kommt. Genau wie Audrey.«
Noa weiß nicht, was sie mehr provoziert: die ungefragte Analyse ihrer Persönlichkeitsstruktur, zutreffend oder nicht, oder dieser Vergleich, der ihm nicht zusteht.
»Was bringt dich auf die Idee, mir zu erzählen, wie meine Schwester tickt? So viel Zeit hast du doch überhaupt nicht mit ihr verbracht, um dir ein Urteil erlauben zu können.«
»Ich nicht, aber mein Vater.«
Noa verzieht das Gesicht. »Sag nicht, Arne redet mit dir über seine Frauengeschichten?«
»Ich habe ihn ausgefragt. Bevor ich euch beide kannte. Wir haben eine moderne Vater-Sohn-Beziehung, wir tauschen uns über unser Leben aus, ja, auch über Frauen. Ist doch völlig normal.«
»Auf diese Art von Normalität kann ich verzichten. Falls du vorhast, mit Arne über uns zu quatschen, war’s das. Dann bin ich weg. Echt. Das kannst du dir abschminken.« Noa ist stocksauer.
Sie beobachtet, wie er den Löffel zur Seite legt und die Servierte benutzt: betont phlegmatisch, wie um die Wogen zu glätten. Mit der Nummer kommt er bei ihr nicht durch, und mit seiner altbewährten Flucht in die Coolness schon gar nicht. Das hier ist eine
Weitere Kostenlose Bücher