Falsche Opfer: Kriminalroman
zu wenden. »Ist er deshalb nicht zum Frühstück erschienen?«
»Es fällt mir schwer, mir das vorzustellen«, sagte der Anstaltschef. »Obwohl das nur auf meiner Einschätzung der Person beruht.«
»Inwiefern?«
»Vukotic war der Typ, der sich beispielhaft führt, solange er drinnen sitzt, und zwar aus dem einfachen Grund, dass er so schnell wie möglich raus will.«
»Um der juristische Berater des Drogenhändlers Rajko Nedic zu werden.«
»Vermutlich ja. Wir machten uns keine großen Illusionen, ihn rehabilitieren zu können. Auf alle Fälle lieber Wirtschaftsjura als schwere Körperverletzung. So muss man argumentieren.«
»Aber der Arm des Gesetzes ist nicht immer besonders lang«, sagte Söderstedt und wiederholte Norlanders Fehler. Die Schwärze klebte wie Leim an seiner Fingerkuppe. »Wie bekannt«, ergänzte er, seufzte tief und versank in sich selbst.
Unerwartet hatte sich indessen Viggo Norlander ein wenig erholt und übernahm das Kommando. »Sitzen andere von Rajko Nedics Handlangern hier ein? Mit wem hat Lordan Vukotic verkehrt?«
»Niemand gibt den geringsten Kontakt mit Nedic zu«, sagte Bernt Nilsson von der Säpo mit dem Kriminalregister im Schädel. »Aber es sitzen noch ein paar Jugos von der gleichen Sorte hier. Zoran Koco, Petar Klovic, Risto Petrovic.«
»Die drei Genannten sind also ›ein paar Jugos von der gleichen Sorte‹«, sagte Söderstedt zusammenfassend, was ihm einen vernichtenden Blick von Seiten Bernt Nilssons einbrachte.
»Man kann jedoch nicht sagen, dass er mit irgend jemandem verkehrte, eigentlich«, sagte der Anstaltschef. »Er blieb meistens für sich.«
Norlander wurde deutlicher: »Was wir brauchen, ist folgendes. Erstens: ein Vernehmungszimmer; zweitens: das Wachpersonal, vor allem Erik Svensson; drittens: Wir müssen das ohrenbetäubende Rauschen in den Trommelfellen der vier Zellennachbarn durchdringen; viertens: ›ein paar Jugos von der gleichen Sorte‹; und schließlich fünftens: aktuelle Information von den Technikern und Ärzten. Sind Qvarfordt und Svenhagen die maßgeblichen Leute?«
Sämtliche Anwesenden starrten ihn verblüfft an.
Nach einer Weile nickte Bernt Nilsson steif.
»Meine Herren«, sagte Norlander förmlich, während er die Babykotze in hauchdünnen weißen Streifen von seiner Schulter abzog. »Morgen ist Mittsommerabend. Ich habe die Absicht, den Tag meiner neugeborenen Tochter zu widmen, nicht Gewalttätern im Kumlabunker. Schreiten wir also zur Tat.«
Er warf einen letzten Blick in die ausgebrannte Zelle. Das hätte er nicht tun sollen. Denn mit einer Art großem Bratenwender pulte einer der Techniker gerade einen formlosen, schwarzgebrannten Klumpen von der Zellenwand. Er wog ihn in der Hand, drehte und wendete ihn. In einem gewissen Moment lag er genau so, dass er Viggo Norlander anstarrte.
Ja, der Klumpen starrte. In dem unförmigen Stück unbenennbarer Materie saß ein Auge eingeklemmt. Vollkommen unversehrt. Als könnte es noch sehen.
Norlander fand, dass es ihn anklagend anstarrte.
»Porzellanauge«, sagte der Techniker mit einem breiten Grinsen.
5
M an aß eine Kleinigkeit.
Es war kurz nach der Mittagspause, und zum drittenmal an diesem Donnerstag aß man eine Kleinigkeit. Man würde mindestens noch dreimal ein bisschen was essen können, bevor es Zeit war, nach Hause zu gehen. Um Mittsommer zu feiern.
Vermutlich indem man ein bisschen was aß, dachte Gunnar Nyberg und starrte auf seine noch unberührte Tasse schwarzen Kaffee.
Asketenkost, wie Ludvig Johnsson es nannte.
Johnsson stopfte vier Kopenhagener pro Tag in sich hinein. Er war dünn wie eine Bohnenstange.
»Es liegt am Stoffwechsel«, hatte Sara Svenhagen vor ein paar Wochen erklärt, am Samstag, dem zwölften Juni, um genau zu sein, kurz nach halb drei, während die Pädophilenjäger, wie die Gruppe inoffiziell genannt wurde, im Strandcafe am Norrmälarstrand saßen und ein bisschen was aßen.
»Du hast deinen Stoffwechsel ruiniert, als du Mister Sweden warst«, fuhr sie didaktisch fort. »Die anabolen Steroide haben das gesamte System durcheinandergebracht. Ludvig ist das genaue Gegenteil. Marathonkörper. Er hat sich seine Trauer förmlich vom Leib gelaufen. Sechzig Kilometer die Woche.
»Trauer?« fragte Nyberg und blickte traurig auf den Kopenhagener, der für ihn bestellt worden war. Er machte gerade eine knochenharte Abmagerungskur, und die ganze Zeit bekam er Kopenhagener und Zimtschnecken und Kekse und Mazariner in seine hilflosen Finger
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