Falscher Ort, falsche Zeit
schließlich. »Nichts von alledem. Der Killer hat keinen Namen, seine Fingerabdrücke sind nirgendwo gespeichert. Er hatte ein Bündel mit dreitausendsiebenhundert Dollar in der Tasche, das war alles. Zuletzt gegessen hat er Tilapia, braune Bohnen, weißen Reis und in Erdnussöl gebratene Bananen. Schmauchspuren an seiner linken Hand und dem Ärmel deuten darauf hin, dass er das Mädchen erschossen hat, aber wir haben in der Wohnung keine Pistole gefunden. Er kann sich unmöglich selbst erstochen haben. Das Messer ist unter der linken Achselhöhle eingedrungen und bis zum Schaft in den Körper gestoßen worden. Angeblich soll der Mörder seine Fingerabdrücke weggewischt haben, aber für mich sieht es so aus, als hätte er dafür gar keine Zeit mehr gehabt, und sie wären von einer dritten Person beseitigt worden.«
»Hat irgendjemand etwas gehört?«
»Ein junger Mann in der Wohnung darüber hat zur vermuteten Tatzeit möglicherweise den Schrei eines Mädchens gehört.«
»Und Soa?«, fragte ich.
»Kann ich Ihnen noch etwas bringen, meine Herren?«, fragte ein junger südamerikanischer Mann mit einem kargen Schnurrbart.
»Haben Sie eine Espressomaschine?«, fragte ich ihn.
»Ja, Sir.«
»Dann hätte ich gern einen dreifachen mit ein wenig geschäumter Milch.«
»Mögen Sie Ihren Kaffee nicht?«, fragte Kitteridge.
»Sie etwa?«
Der junge Mann entfernte sich lächelnd, um sich um meine Bestellung zu kümmern.
»Was ist verkehrt mit dem Kaffee?«
»Er schmeckt wie Chemieabfälle.«
»Ich schmecke nichts.«
»Haben Sie irgendwas über Wanda Soa?«, fragte ich.
»Ich könnte ein Telefonbuch über sie voll schreiben. Ihr Vater ist ein Geschäftsmann aus Kolumbien, ihre Mutter eine Dame der Pariser Gesellschaft namens Jeanne Ouré, die abwechselnd in Nizza und Salvador lebt.«
»Bahia?«, fragte ich.
»Was?«
»Salvador ist entweder ein Land oder eine Stadt in der Provinz Bahia in Brasilien.«
»Brasilien«, sagte Kitteridge. »Sie – Wanda – war ziemlich oft dort. Eine Zeit lang wurde sie verdächtigt, Drogen zu schmuggeln.«
»Und hat sie?«
»Kommt drauf an, wie man es sieht.«
»Was heißt das?«
»Vierzehn Beamte waren auf sie angesetzt – auf Stadt-, Staats- und Bundesebene. Im Verlauf von neun Monaten wurde sie auf vier Reisen beschattet. Schließlich hat man sie bei der Einreise am Zoll herausgepickt und gründlich gefilzt.«
»Und hat man etwas gefunden?«
»Weniger als ein Gramm Haschisch, eingewickelt in die Aluminiumfolie eines Kaugummis in der Gesäßtasche einer schmutzigen Jeans. Sie sagte, jemand hätte es ihr bei einem Konzert gegeben und sie hätte es in derTasche vergessen. Inzwischen hatte man jedoch mehr als achthunderttausend Dollar für die Ermittlung gegen das Mädchen ausgegeben, also wurde sie vor drei verschiedenen Gerichten angeklagt. Vor drei verschiedenen Gerichten.«
»Das heißt, sie stand unter Anklage, als sie ermordet wurde?«
»Nein.«
»Nicht?«
»Irgendwann schaltete sich ein teurer Anwalt namens Lamont Jennings ein. Er kannte die richtigen Leute. Drei Wochen vor der Anklageerhebung wurden sämtliche Tatvorwürfe fallen gelassen.«
»Einfach so?«
Kitteridge nickte. »Nun könnte man vermuten, dass jemand einen Killer engagiert hat, weil er dachte, dass Soa beim FBI oder sonst wo geplaudert hat, aber das bezweifle ich. Ihre Familie hat Geld, und sie hatte überhaupt keine Verbindung zur Drogenszene.«
Der Kellner servierte meinen Espresso macchiato.
»Verdammt«, sagte ich, als er wieder gegangen war. »Das ergibt absolut keinen Sinn.«
»Nein. Aber hinter der Ermittlung steckt viel Macht. Tinely will, dass irgendjemand für diese Morde zur Rechenschaft gezogen wird. Sein Assistent ruft mich jeden Morgen an und fragt nach dem neusten Stand.«
Carson Kitteridge sah mich an, während er seinen ranzigen Kaffee zum Mund führte.
»Ich habe keine Ahnung, wer der Killer war oder warum er Wanda Soa getötet hat«, sagte ich. »Das sind die Fakten.«
»Davon bin ich auch nicht ausgegangen. Tinely meinte, dass Sie wahrscheinlich irgendwas wissen. Ich habe ihm erklärt, dass Mord nicht Ihre Handschrift ist, aber das ist ihm egal. Er will jemanden auf dem Scheiterhaufen sehen, und wenn Sie in der Gegend sind, verbrennt er eben Sie.«
»Das heißt … Sie beschützen mich?«
»Nein, aber ich halte mich an die Regeln.«
29
Kitteridge ließ mich mit meinem Espresso allein, um seine Worte zu überdenken – und die Rechnung zu bezahlen.
Niemand war
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