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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Kardinals spüren konnte.
    Er war vollkommen verwirrt. Er hatte die Kraft des Mannes unter seiner dunklen Robe gespürt, hatte seinen heiseren Atem gehört und gemerkt, daß der Kardinal die größten See-lenqualen litt, als er ihn schließlich losließ.
    Tonio erinnerte sich daran, daß er zurückgewichen war. Er erinnerte sich daran, daß der Kardinal zum Fenster gegangen war und die Lichter in der Ferne betrachtet hatte. In der Nähe war ein Hügel zu sehen gewesen, kleine Fenster und Dächer zeichneten sich vor einem helleren Himmel ab.
    Elend. Elend. Dennoch war da ein schreckliches Gefühl des Triumphs, eine fast berauschende Ahnung von etwas Verbo-tenem gewesen, so als wäre dies ein Duft, der in der Luft lag.
    Als sich der Kardinal jedoch wieder zu ihm umgedreht hatte, hatte er einen Entschluß gefaßt. Er legte seine Hände auf Tonios Nacken, wobei er mit den Daumen sanft seine Kehle be-rührte, und fragte ihn halb flüsternd und ganz sanft, ob Tonio so freundlich wäre, seine Kleidung auszuziehen.
    Der Kardinal hatte diesen Wunsch mit großer Höflichkeit, gro-
    ßer Schlichtheit vorgebracht. Die bloße Berührung seiner Hände schien eine Macht in sich zu bergen, die Tonio alle Kraft nahm, die ihm das Gefühl gab, sich fügen zu müssen.
    Aber Tonio hatte sich nicht gefügt. Er war zurückgewichen.
    Eine Flut von Gedanken, die mächtiger waren als der sanfte Befehl des Kardinals, überdeckte das Verlangen, das in ihm selbst erwachte. Er konnte dem Kardinal nicht in die Augen sehen, als er darum bat, gehen zu dürfen.
    Der Kardinal hatte gezögert, dann hatte er ganz ehrlich und freundlich gesagt: »Vergib mir, Marc Antonio. Ja, ja, selbstverständlich kannst du gehen.«
    Was war geblieben? Dieses Gefühl, daß Tonio das Ganze irgendwie gewollt hatte, daß er es provoziert hatte und daß er diesem Mann Unrecht getan hatte.

    Als Tonio, den Guidos böse Worte gekränkt und erschüttert hatten, nun draußen vor der Tür des Kardinals stand, dachte er: Für dich, Guido, für dich tue ich das. Die Dinge, die er fürchtete, Guido zuliebe überwand er sie stets; die Dinge, die er als Demütigung empfand. Guido zuliebe lernte er sie zu ertragen.
    Dies aber, dies war etwas vollkommen anderes. Guido hatte keine Ahnung, was er verlangte, als er Tonio dorthin schickte!
    Ganz plötzlich wurde Tonio jedoch klar, daß er den Kardinal vom ersten Augenblick an begehrt hatte. Er hatte ein Verlangen nach ihm verspürt wie sonst noch nach niemandem vor ihm. Bislang hatte er sich in der Wärme und Sicherheit von Guidos Liebe geborgen gefühlt. Aber nun war da der Kardinal, der unversehrt und mächtig war. Es schien, als hätte Tonio sich schon seit langer Zeit auf die Begegnung mit ihm zubewegt.
    Die Tür gab nach, als er klopfte. Sie war nicht verriegelt worden. Der Kardinal sagte: »Tritt ein.«
    Der Kardinal saß über seinen Schreibtisch gebeugt. Das Zimmer wurde vom Licht einer anscheinend antiken Öllampe erhellt, ansonsten war alles unverändert geblieben. Das Buch, das vor ihm lag, war mit illuminierten Anfangsbuchstaben versehen, in die kleine Figuren eingepaßt waren. Das Ganze schimmerte, als er mit zitternder Hand die Seite umblätterte.
    »Ach, stell dir vor«, sagte er lächelnd, als er Tonio sah, »das geschriebene Wort ist der Besitz jener, die so große Mühe darauf verwendet haben, es zu bewahren. Ich bin immer aufs neue von der Art und Weise fasziniert, wie uns Wissen weitergegeben wird, und zwar nicht durch die Natur, sondern durch unsere Mitmenschen.«
    Er trug jetzt nicht mehr das lockere schwarze Gewand, sondern hatte seine karminfarbene Robe angelegt. Ein silbernes Kruzifix ruhte auf seiner Brust. Sein Gesicht zeigte eine solch merkwürdige Mischung aus scharfen Linien und lebendigem Humor, daß Tonio einfach nur dastand und ihn anstarrte.
    »Mein lieber Marc Antonio«, sagte er verwundert, während auf seinen Lippen ein Lächeln erschien. »Warum bist du zurückgekommen? Es ist dir doch gewiß klar, daß es richtig war, zu gehen?«
    »War es das, Euer Gnaden?« fragte Tonio. Er zitterte. Ach, wie merkwürdig es war, zu zittern, ohne es sich anmerken lassen zu dürfen. Er trat an den Schreibtisch. Sein Blick fiel auf die lateinischen Sätze, die sich da in einer schematischen Unordnung verloren, einer Wildnis von winzigen Wesen, die zwischen karminroten, scharlachroten und goldenen Schnör-keln lebten.
    Der Kardinal hatte ihm seine geöffnete Hand entgegengehal-ten.
    Tonio ging darauf zu, ließ sich von

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