Familie Zombie
meiner Eltern. Dort allerdings ziemlich weit entfernt.
Ich wollte nicht erst loslaufen und nach einem Weg suchen, der mich in diese Gegend führte. Es gibt Situationen, da kommt es allein auf den Erfolg an. So hetzte ich über mehrere Gräber hinweg, damit ich so schnell wie möglich mein Ziel erreichte!
Der Schrei hatte sich nicht wiederholt. Das konnte positiv, aber auch negativ sein. Ich hoffte auf die erste Möglichkeit und sprang mit einem weiten Satz auf einen breiten Weg, der mir eine recht freie Sicht gab, denn jetzt schaute ich nicht mehr gegen hohe Grabsteine oder auf irgendwelches Buschwerk.
Der Blick nach links – nichts!
Dann der nach rechts.
»He, Mister!«
Mich erreichte zunächst der Ruf. Dann sah ich, dass die Frau mit beiden Händen winkte. Es war tatsächlich die älteren Person, die ich durch die Lücke gesehen hatte, als ich am Grab meiner Eltern gestanden hatte. Ich eilte zu ihr und blieb etwas außer Atem vor ihr stehen.
»Was ist passiert? Haben Sie geschrien? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
Meine drei Fragen waren zu schnell auf sie niedergeprasselt. Sie musste sich erst fangen. Es dauerte einen Moment. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich diese Person schon mal in Lauder gesehen hatte, kam aber zu keinem Ergebnis.
Sie war ungefähr 70. Eher älter als jünger. Ein rundes Gesicht schaute aus dem Fellkragen eines Mantels hervor. Um den kleinen Mund herum sah ich zahlreiche Falten, und hinter den Gläsern der Brille sah ich die erschreckten Augen.
»Mir ist nichts passiert«, sagte sie.
»Zum Glück. Aber warum haben Sie dann geschrien?«
»Weil mich etwas erschreckt hat.«
»Darf ich fragen, was?«
Während ich mit ihr sprach, befanden sich meine Augen in ständiger Bewegung, weil ich einen Fremden suchte, aber in meiner Sichtweite blieb der Friedhof leer.
»Da... da... war plötzlich ein Kind.«
Ich beugte den Kopf nach unten. »Bitte?«
»Ja, ein kleiner Junge. Ungefähr zehn Jahre. Glaube ich wenigstens.«
»Und der hat Sie so erschreckt?«
Sie nickte.
»Warum denn?«
Bisher hatte ich die Antworten schnell bekommen. Diesmal ließ sie sich Zeit damit. »Das kann ich auch nicht sagen«, meinte sie nach einer Weile. »Er hat mir ja nichts getan. Ich weiß nur, dass er so... so... seltsam aussah.«
»Wie seltsam denn?«
»Das kann ich schlecht sagen. Er trug einen Mantel. Er hatte ein rundes Gesicht und recht dunkle Haare. Aber er sah aus, als würde er nicht mehr leben...«
»Nein – sagen Sie nur!«
»Doch, das habe ich so empfunden.«
»Und was hat Sie darauf gebracht?«
Die Frau dachte einen Moment nach, um dann mit den Schultern zu zucken. »Er wirkte so kalt, so leblos und irgendwie böse. So ein Gesicht habe ich noch nie in meinem Leben gesehen. Als wäre er nicht mehr am Leben. Ein toter Junge, eine angezogene Kinderleiche, die man wie eine Figur hier auf den Friedhof gestellt hat.«
»Und wo ist er jetzt geblieben?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht.« Mit einer Hand fuhr die Frau durch ihre Haare und zuckte die Achseln. Sie deutete auch zur gegenüberliegenden Grabseite hin.
»Da?«
»Ja, er stand dort. Nicht mal auf dem Weg, sondern zwischen den Gräbern. Er schaute so böse in mein Gesicht.« Sie schüttelte sich. »Da habe ich richtig Angst bekommen.«
»Hat er Sie angesprochen?«
»Nein. Er hat nur geschaut. Kann sein, dass er etwas oder jemand gesucht hat. So plötzlich wie er gekommen ist, verschwand er auch wieder. Er tauchte einfach ab.«
»Wohin lief er?«
»Nicht über den Weg. Er blieb auf der Seite, wo sich die Grabsteine befinden. Er drehte sich nur um und lief eilig weg. Wahrscheinlich ist er über alle Berge.«
»Das scheint mir auch so zu sein«, murmelte ich und fragte dann: »Kommen Sie aus Lauder?«
»Ich wohne hier seit über fünfzig Jahren. Wenn Sie jetzt fragen wollen, ob ich den Jungen schon mal im Ort gesehen habe, dann muss ich passen. Nein, das habe ich nicht.«
»Er war Ihnen demnach völlig fremd?«
Sie nickte.
»Okay«, sagte ich, »dann können wir davon ausgehen, dass er wohl nicht mehr zurückkommt. Aber um sicher zu sein, mochte ich Sie gern begleiten. Darf ich das?«
»Gern.« Sie warf dem Grab, auf dem die Blumen standen, noch einen Abschiedsblick zu, dann machten wir uns auf den Rückweg. Die ältere Lady war noch gut zu Fuß, sie hielt locker mit mir Schritt und hängte sich auch nicht bei mir ein. Allerdings bemerkte ich, dass sie mich hin und wieder prüfend von der Seite her
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