Familienaufstellungen
angemessene Form des Ausgleichs besteht darin, das Leben eigenen Kindern weiterzugeben, die Dynamik zielt also in die Zukunft. Wenn das erwachsene Kind sich für das Wohl anderer Menschen einsetzt, in einem sozialen Sinn Leben weitergibt, schafft dies ebenfalls einen Ausgleich. Ein direkter Weg, die Gabe der Eltern zu würdigen, ist der Dank des Kindes für sein Leben und für alles, was diese ihm gegeben haben.
In der Arbeit mit Familienaufstellungen erkannte Bert Hellinger, dass die Dynamik des Ausgleichs weit über die Kernfamilie hinauswirkt.Durch die Aufstellungsarbeit wurde das Konzept des Familientherapeuten Boszormenyi-Nagy bestätigt. Er schrieb bereits in seinem 1973 veröffentlichten Buch »Unsichtbare Bindungen«, dass es in Familiensystemen eine Art unsichtbares Schuld- und Verdienstkonto gibt, über das Ungerechtigkeiten ausgeglichen werden. Diese für Ausgleich sorgende Kraft nennt Hellinger das »Sippengewissen«.
Dieses Sippengewissen unterscheidet sich wesentlich vom Gewissen des Einzelnen. Das individuelle Gewissen erspürt, was recht und was unrecht ist. Haben Sie beispielsweise Ihren Partner verletzt, nehmen Sie dies entweder selbst wahr, oder der andere wird sich rühren und Ihnen »ins Gewissen« reden. Dies trägt dazu bei, dass Beziehungen aktiv geklärt werden können. Das Sippengewissen dagegen wirkt auf einer tieferen, verborgenen Ebene. Es sorgt dafür, dass alle Personen, die zu einem Familiensystem gehören, einen angemessenen Platz erhalten.
Werden Personen in einem Familiensystem nicht geachtet oder ausgeschlossen, wird sich irgendeine Person in der folgenden Generation darum kümmern, dass das Schicksal dieses ausgegrenzten Familienmitglieds ausreichend gewürdigt wird. Die Systemdynamik lautet: Wer ins System hineingehört, aber hinausgeschickt wird, kommt über einen Innenstehenden wieder zurück, wird durch diesen repräsentiert.
Ebenso beschreibt Hellinger die umgekehrte Dynamik: Wer die Zugehörigkeit zum Familiensystem verspielt hat, es aber nicht verlässt, wird durch einen anderen vertreten. Hat beispielsweise ein Familienmitglied schwere Schuld, etwa durch Mord, auf sich geladen, so erlischt sein Anspruch auf diese Zugehörigkeit. Wird das in der Familie nicht realisiert, wird ein anderes Familienmitglied, ein Kind oder Enkel, das ihm gemäße Schicksal zu übernehmen suchen. Dieses Phänomen ist beispielsweise in Familien zu erkennen, in denen der (Groß-)Vater zur Zeit der Nationalsozialisten Mitglied der SS war und den Tod Unschuldiger zu verantworten hatte. Wird dies verschwiegen und ausgeblendet, ist zu beobachten, dass meist Kinder der übernächsten Generation die nicht gesühnte Schuld des (Nazi-)Täters übernehmen. Auffallend häufig äußert sich dies in Form von schweren psychischen oder psychosomatischen Erkrankungen.
Verstrickungen: Identifizierung, Nachfolge, Übernahme
Die in Familiensystemen zu beobachtenden Versuche, ausgegrenzten Personen Achtung zu verschaffen oder aber das Unrecht eines Vorfahren zu sühnen, nennt Hellinger Verstrickung. Dabei unterscheidet er drei Formen: Identifizierung, Nachfolge und Übernahme. In solchen Fällen übernimmt ein später geborenes Familienmitglied das Schicksal eines Vorfahren.
→ Identifizierung
Unter Identifizierung versteht Hellinger, dass eine Person unbewusst mit einem ausgegrenzten oder missachteten Familienmitglied in Verbindung steht und dieses unbewusst nachahmt. Das kann so aussehen, dass diese Person Gefühle erlebt, die sie ihrem eigenen Leben nicht zuordnen kann, sogenannte »übernommene« Gefühle. Ein Sohn empfindet beispielsweise unbändige Wut gegenüber seinem Vater, bekämpft diesen aufs Schärfste. In der Aufstellung zeigt sich, dass er den ersten Mann der Mutter vertritt. Der Sohn bringt – unbewusst – mit seiner mächtigen Wut den ersten Mann, der bisher in dieser Familie ignoriert wird, wieder ins Spiel, indem er dessen Gefühle lebt. Die Identifizierung kann sich darüber hinaus auch in psychischen Störungen oder psychosomatischen Erkrankungen zeigen. Beispiel: Eine junge Frau leidet an Asthma, und in der Familienaufstellung stellt sich heraus, dass die Schwester ihrer Mutter früh an einer Lungenerkrankung gestorben ist.
In den letzten Jahren beschäftigte sich Bert Hellinger intensiv mit schwer kranken Menschen, mit Krebskranken, mit Menschen, die unter Psychosen leiden. Er erkannte, dass es in der Vergangenheit all dieser Familien schwere Schicksale gegeben hatte, und stellte
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