Familienbande
schien alles wieder gut zu verheilen und sie wurde sicher bald entlassen.
„Ich denke, Sie sollten froh sein, dass die beiden heute so gute Laune haben“, wand Laney ein. „Juan hat schließlich auch schon ganz andere Tage hinter sich.“
Laney merkte, dass Martha sich gleich wieder an diese schlechteren Zeiten erinnerte, und bereute ihre Worte sofort. Martha tat zwar so, als könnte sie mit Kindern nicht viel anfangen, aber sie hatte sowohl eigene Kinder als auch Enkel. Und als die Ärzte vor ein paar Monaten dachten, dass sie Juan nicht mehr würden retten können, hatte sie stundenlang weinend auf der Toilette gesessen.
„Ich weiß“, sagte Martha nun und sah plötzlich sehr verletzlich aus. „Gott. Wir wissen schließlich nie, wie lange dieses Kind noch zu leben hat. Und falls er überlebt, wissen wir nicht, wie seine Zukunft aussehen wird.“
Juan war ein Findelkind. Er hatte die meiste Zeit seiner Kindheit auf der Straße verbracht und war von einem Fremden ins Krankenhaus gebracht worden, der ihn bewusstlos gefunden hatte. Das Krankenhaus hatte versucht, Angehörige von ihm zu finden, doch leider erfolglos. Trotz der Schmerzen, die ihm die ständigen Untersuchungen Juan bereiteten, glaubte Laney, dass Juan Angst vor dem Tag seiner Entlassung hatte. Jeder liebte ihn hier und seitdem Mariana da war, war er endgültig aufgeblüht. In vielerlei Hinsicht war er das genaue Gegenteil von der Señora. Die Señora hatte ihr Leben hinter sich und hatte keine Kinder. Juan hingegen hatte sein ganzes Leben noch vor sich, aber hatte keine Eltern. Das Einzige, was die beiden gemeinsam hatten, war, dass sie beide durch eine Krankheit an dieses Krankenhaus gebunden waren und dass sie nicht wussten, wann und ob sie es jemals wieder verlassen würden.
„Würde es Ihnen etwas ausmachen, hier kurz die Stellung zu halten, Samantha?“, fragte Martha nach einer Weile. „Ich brauche ganz dringend einen Kaffee.“
„Aber nicht doch, Martha“, versicherte Laney. „Gehen Sie nur. Sie wissen doch, wie gerne ich mit den Kindern zusammen bin.“
Martha nickte und drehte sich zur Tür.
„Soll ich Ihnen auch einen Kaffee mitbringen?“, fragte sie, kurz bevor sie hinausging.
Laney dachte kurz darüber nach und wägte die Vorteile eines wacheren Zustands gegen den Nachteil des schrecklichen Geschmacks ab und schüttelte schließlich den Kopf.
„Nein danke, Martha“, sagt sie höflich. „Ich hatte vorhin schon einen.“
Als Martha fort war, fing Laney an die Kinder nacheinander zu untersuchen. Zurzeit waren außer Juan und Mariana noch vier andere Kinder da, die aber alle keine ernsthaften Krankheiten hatten und sicher bald wieder entlassen wurden. Laney nahm sich dennoch einen nach dem anderen vor und redete mit jedem von ihnen ein paar Worte. Es war für sie eine gute Übung, um ihre Fähigkeiten zu verbessern.
„Warum hast du eigentlich immer einen Zopf, Samantha?“, fragte Mariana neugierig, als sie dran war und fasste Laney ins Haar. „Du hast so schöne Haare. Du solltest sie nicht verstecken.“
„So etwas sagt man nicht, Mariana“, tadelte Juan. „Ich finde deine Frisur toll, Samantha.“
Laney lächelte die beiden Kinder an und ging nicht weiter auf ihre Fragen ein.
„Wie geht es dir heute, Juan?“, fragte sie stattdessen den kleinen Jungen, der nicht wie ein Sechsjähriger aussah, sondern eher wie ein Vierjähriger.
„Gut. Danke, Samantha“, gab er zurück und stellte sich ganz gerade hin.
Laney nahm seinen Arm und maß seinen Blutdruck. Er ergab sehr beunruhigende Werte. Als Laney ihm die Hand auf die Stirn legte, merkte sie sofort, dass er ungewöhnlich warm war. Das war kein gutes Zeichen.
„Du darfst mich nicht anlügen, Juan“, sagte Laney tadelnd und strich ihm mitleidig mit der Hand über die Wange. „Wenn du lügst, dann wird es nur schlimmer und du musst am Ende noch länger ins Bett, als es eigentlich nötig wäre.“
An der Art, wie Juan die Schultern nach vorne sacken ließ, sah Laney sofort, dass sie recht hatte. Wahrscheinlich hatte er sogar wieder Schwindelanfälle und wollte es nur niemandem sagen, damit er weiter mit Mariana spielen konnte. Laney schickte Juan ins Bett und drohte ihm, sich bloß nicht von der Stelle zu rühren. Dann nahm sie Mariana zur Seite.
„Hör zu, Mariana“, sagte sie ernst zu dem Mädchen. „Du weißt, dass Juan sehr krank ist, aber er hat Angst es zuzugeben, weil er weiß, dass wir ihn dann nicht mehr mit dir toben lassen. Deswegen brauchen
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