Familienbande
zu packen und nach Hause zu gehen. „Dr. Juarez schickt mich. Es sind gerade mehrere Notfälle hereingekommen. Darunter ein besonders eigenartiger Fall und sie sagt, dass sie jede Hand braucht. Jetzt sofort.“
Laney reagierte sofort. Es kam häufig vor, dass sie ihren Feierabend verschieben musste, weil noch Arbeit anstand. Dr. Juarez war die Oberärztin auf der Station und kümmerte sich persönlich um alle Notfälle. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie auch Laney zur Hilfe rief, wenn es personelle Engpässe gab. Dennoch beschlich Laney das Gefühl, dass der Notfall, von dem die Krankenschwester geredet hatte, kein Beinbruch oder Autounfall war.
„Was für ein eigenartiger Fall?“, fragte sie höchst alarmiert.
„Ich weiß es nicht genau“, antwortete die Krankenschwester und zuckte hilflos die Schultern. „Ich weiß nur, dass es ein Mann ist, der unheimlich viel Blut verloren hat, weil er eine ziemlich große Wunde am Hals hat. Möglicherweise eine Bisswunde. Ganz eigenartig die Sache.“
Die junge Frau brauchte gar nicht mehr zu sagen. Laney ließ sie gar nicht zu Ende reden, sondern rannte so schnell sie konnte los in Richtung Notaufnahme. Sie wusste genau, was diesem Mann passiert sein musste, und sie hatte das schreckliche Gefühl, dass ihre Vergangenheit dabei war, sie einzuholen.
Laney sollte mit ihrer Befürchtung recht behalten. Es hatte einen Busunfall gegeben, wobei der Busfahrer am Steuer eingeschlafen und das Fahrzeug eine Böschung hinuntergerauscht war. Es gab viele Verletzte, aber Laney interessierte sich nur für den Mann, der als ‚höchst merkwürdig‘ eingestuft und bereits kurz vor den Unglücksopfern eingeliefert worden war. Der besagte Mann, der in einem der Räume in der Notaufnahme lag, war zweifelsohne von einem Vampir gebissen worden. Die Frage war nur, von was für einem.
Laney stand vor einer Glasscheibe und beobachtete ihn aufmerksam. Er hatte viel Blut verloren und die Ärzte hatten ihm Blutinfusionen angehängt, um sein Leben zu retten.
Laney war froh, dass ihr der Anblick von Blut schon seit langem nichts mehr ausmachte, denn ansonsten hätte sie sich in der Notaufnahme gar nicht aufhalten können. Wenn man nur wollte, war es möglich, sich an alles zu gewöhnen. Man brauchte nur den richtigen Anreiz.
Der Mann tat ihr leid. Bisher hatte Laney vermutet, dass es keine Vampire in Barcelona gab, weil sie noch keinen begegnet war. Doch anscheinend hatte sie sich damit geirrt. Dieser Mann war ganz offensichtlich erst vor weniger als einer Stunde gebissen worden.
Es sah nicht so aus, als wäre es ein Vampir der Herrenrasse gewesen. Falls Laney sich mit dieser Einschätzung jedoch irren sollte, müsste sie schnell handeln. Es stand völlig außer Frage, eine Verwandlung innerhalb des Krankenhauses zuzulassen. Sobald das Brennen aufhörte, würden unweigerlich der Wahnsinn und der Durst einsetzen, und der Mann würde das ganze Krankenhaus in Schutt und Asche zerlegen. So etwas konnte Laney unmöglich zulassen. Aber was war dann die Alternative? Entweder musste sie ihn wegschaffen und ihm beibringen, die Regeln zu befolgen, oder sie musste ihn umbringen. Keine der beiden Alternativen erschien ihr besonders reizvoll.
Laney schluckte und ging in den Raum, um mit Dr. Juarez zu sprechen.
„Wie steht es um ihn?“, fragte sie so freundlich wie möglich, um sich keine Abfuhr von der älteren Frau einzuhandeln. Möglicherweise hatte sie keine Lust auf dumme Fragen. Dr. Juarez warf Laney einen undefinierbaren Seitenblick zu und seufzte dann.
„Ich weiß nicht, ob er es schaffen wird“, sagte sie mit ehrlicher Trauer. „Ich habe so etwas noch nie gesehen. Eigentlich sollte er längst über den Berg sein, aber er hört einfach nicht auf abzubauen und ich frage mich inzwischen schon, ob er auf Drogen ist. In seinem Blut haben wir seltsame Veränderungen gefunden, die wir nicht einordnen können. Ich habe so etwas noch nie erlebt.“
Laney wurde blass. Offenbar war der Mann doch von einem Vampir der Herrenrasse gebissen worden, denn sonst würde sein Körper nicht auf den Biss reagieren.
Laney zog die Augenbrauen zusammen. Der Mann schien noch sehr jung zu sein und war bestimmt ein netter Bursche. Aber sie wünschte ihm trotzdem, dass er in Ruhe sterben möge. Ihre Familie hatte sie zu dem Glauben erzogen, dass das Leben eines Kaltblüters kein erstrebenswertes Leben war. Laney verachtete die Kaltblüter zwar nicht, aber sie hatte an Kathleen gesehen, wie schwer es für einen
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