Familienbande
ein wenig gelegt hatte. »Das elende Schwein entblödet sich nicht, aufzustehen und ...« »Mein lieber Magrew«, sagte Mr. Bullstrode, »ich kann nur sagen, daß ich endlich begreife, warum der Alte in seinem Testament festgesetzt hat, daß der Vater des Bastards bis auf einen Zoll an sein Leben gepeitscht werden soll. Eine dunkle Ahnung muß er gehabt haben, verstehen Sie.« Dr. Magrew nickte. »Mir persönlich wäre es lieber gewesen, wenn er etwas Wirkungsvolleres festgesetzt hätte«, sagte er, »beispielsweise eine halbe Meile darüber hinaus.«
»Über was?« fragte der Anwalt.
»Über sein Leben hinaus«, sagte Dr. Magrew und goß sich etwas von Mr. Flawses Whisky ein, der in der Ecke auf einem Tablett stand. Mr. Bullstrode folgte seinem Beispiel. »Womit wir bei einer sehr interessanten Frage angekommen wären«, sagte er, als sie auf ihr jeweiliges Wohl und das
Unwohlsein von Mr. Taglioni getrunken hatten. »Die nämlich ganz einfach lautet, was man unter ‹einen Zoll an sein Leben¤ verstehen muß. Meines Erachtens ist die Frage des Messens von zentraler Bedeutung.«
»Daran hatte ich nicht gedacht«, gab Dr. Magrew zu, »und jetzt, wo Sie es erwähnen, fallen mir schwerwiegende Einwände ein. Eine präzisere Angabe wäre wohl einen Zoll an seinen Tod gewesen.«
»Was die Frage immer noch nicht beantwortet. Leben bedeutet Zeit. Wir sprechen von der Lebenszeit oder -dauer eines Menschen, nicht von seinem Lebensraum. Und ein Zoll ist keine Zeiteinheit.«
»Aber wir kennen auch den Ausdruck‹ein langes Leben¤«, wandte Dr. Magrew ein, »was zweifellos eine räumliche Ausdehnung beinhaltet. Wenn wir also für ein langes Leben achtzig Jahre veranschlagen, was ich für eine faire Schätzung halte, können wir wohl als Richtschnur siebenzig Jahr wählen. Ich persönlich freue mich, aus der Farbe des Teints und der generellen körperlichen Verfassung dieses ekelhaften Italieners in diesem Fall auf eine weit kürzere Lebenserwartung als in der Bibel erwähnt schließen zu können. Sagen wir, um ganz sicherzugehen, sechzig Jahre. Nun müssen wir einen Zoll auf eine Skala übertragen, die sich zu sechzig Jahren verhält, wie ...«
Sie wurden durch Lockharts Eintreten unterbrochen, der verkündete, um seinen Großvater nicht zu beunruhigen und Mrs. Flawse nicht aufzuregen, habe er beschlossen, den zweiten Teil der Zeremonie im Wehrturm zu vollziehen.
»Dodd bereitet ihn für die Auspeitschung vor«, sagte er. Die beiden alten Männer folgten ihm, immer noch in ein Streitgespräch darüber vertieft, was man unter einem Zoll an sein Leben zu verstehen habe.
»Ein Zoll des Lebens«, sagte Dr. Magrew, »überläßt uns nämlich zwei Zoll, mit denen wir operieren können, einen vor und einen nach dem Tod. Nun stellt bereits der Tod einen unbestimmten Zustand dar, und es wäre angebracht, sich zu überlegen, was man darunter versteht, bevor man etwas unternimmt. Einige Experten definieren den Tod als den Augenblick, in dem der Herzstillstand eintritt; andere gehen davon aus, daß das Gehirn als Sitz des Bewußtseins in der Lage ist, über den Zeitpunkt hinaus zu arbeiten, in dem das Herz nicht mehr arbeitet. Nun, mein Herr, lassen Sie uns definieren ...«
»Dr. Magrew«, sagte Mr. Bullstrode, als sie durch den Zwerggarten schritten, »ich als Anwalt bin nicht qualifiziert, dieses Thema zu erörtern. Der Begriff ‹einen Zoll an sein Leben¤ erlaubt nicht, daß der Mann stirbt. Ich hätte nicht an einem Testament mitgewirkt, das den Mord an Lockharts Vater zur Auflage macht, ganz gleich, wie meine persönlichen Gefühle in dieser Angelegenheit sein mögen. Mord ist ungesetzlich ...«
»Genau wie Auspeitschen«, sagte Dr. Magrew. »In einem Testament festzulegen, daß ein Mann bis auf einen Zoll an sein Leben gepeitscht werden soll, macht uns beide zu Mittätern eines Verbrechens.«
Sie hatten den Wehrturm betreten, und seine Stimme hallte zwischen den verstaubten Standarten und alten Rüstungenwider. Über dem großen offenen Kamin bleckte ein augenloser Tiger seine Zähne. Der an die gegenüberliegende Mauer gekettete Mr. Taglioni erhob lautstark Einspruch.
»Was meinen Sie mit auspeitschen?« schrie er, doch Mr. Dodd schob ihm eine Kugel in den Mund.
»Damit er auf etwas beißen kann«, erklärte er. »In der Armee war das so üblich.«
Mr. Taglioni spuckte die Kugel aus. »Verrückt oder was?« brüllte er. »Was wollt ihr denn noch von mir? Zuerst muß ich ...«
»Behalten Sie die Kugel im Mund«, unterbrach ihn Mr.
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