Familienbande
ein Freudenfest.
»Eine Million plus Prozeßkosten. Eine Million. Die höchste Schadensersatzsumme, die je in einem Beleidigungsfall zugesprochen wurde. Und dann noch die Prozeßkosten! Lieber Gott, laß sie Berufung einlegen, laß sie bitte Berufung einlegen«, sagte Mr. Gibling der Ältere.
Aber Miss Goldring war jenseits aller Berufung. Mr. Shortsteads Versicherungsgesellschaft hatte sich sofort nach dem Urteil mit ihm in Verbindung gesetzt und keinen Zweifel daran gelassen, daß sie vorhatten, sowohl ihn als auch Miss Goldring auf jeden einzelnen Penny zu verklagen, den man von ihnen verlangte.
Und in Sandicott Crescent Nummer 12 hatten Lockhart und Jessica keinerlei Gewissensbisse.
»Scheußliches Weib«, sagte Jessica; »wenn ich daran denke, wie gut mir ihre Bücher gefallen haben. Und sie waren alle erlogen.«
Lockhart nickte. »Jetzt fangen wir mit dem Verkauf der Häuser an«, sagte er. »Nach soviel negativer Publicity können wir unmöglich in dieser Gegend wohnen bleiben.«
Am folgenden Tag schossen in Sandicott Crescent die »Zu Verkaufen«-Schilder in die Höhe, und nun, da er sich finanziell abgesichert fühlte, beschloß Lockhart, die Briefe zu öffnen, die Miss Deyntry ihm gegeben hatte.
Kapitel 16
Dies tat er mit angemessener Feierlichkeit und in dem dumpfen Bewußtsein, das Schicksal herauszufordern. »Papier und Tinte werden dir nicht helfen«, hatte ihm die alte Zigeunerin gesagt, deren Prophezeiung Papier und Tinte in Miss Goldrings Roman zwar nicht bestätigt hatten, aber wenn Lockhart sich ihre Worte in Erinnerung rief, kam es ihm so vor, als bezögen sie sich mehr auf diese Briefe als auf etwas anderes. Er hatte sie in derselben Stunde bekommen, in der die Zigeunerin ihre Vorhersage gemacht hatte, was für ihn kein Zufall war. Zu sagen, warum, wäre ihm schwergefallen, doch in seinem Hinterkopf schlummerten Spuren des Aberglaubens seiner Vorfahren aus einer Zeit, als man die Warnungen einer Roma ernst nahm. Außerdem hatte sie in anderer Hinsicht recht gehabt. Drei Tote hatte es gegeben, und auch wenn sie die Gesamtzahl unterschätzt hatte, blieb doch zu bedenken, daß sie bei der Sache mit dem leeren Grab richtig gelegen hatte. Für die Überreste der verstorbenen Mrs. Simplon war kein Grab erforderlich gewesen. Und wie stand es mit dem Gehängten am Baum? Der Polizeikommissar hatte jedenfalls am Baum gehangen, wenn auch nicht so, wie es die Frau vorhergesagt hatte. Und dann war da noch die Sache mit der Gabe. »Eh‘ du dich nicht deiner Gabe bedienst.« Möglicherweise bezog sich das auf die eine Million Pfund Schadensersatz aus dem Beleidigungsprozeß.
Doch auch dieses bezweifelte Lockhart. Sie hatte andere Gaben als Geld gemeint.
Dennoch nahm Lockhart all seinen Mut zusammen und öffnete einen Brief nach dem anderen, beginnend mit dem ersten, der aus dem Jahr seiner Geburt und aus Südafrika stammte, und endend mit dem letzten, der aus dem Jahr 1964 datiert und in Arizona aufgegeben worden war. Sein Vater œ falls der Schreiber sein Vater war œ war ein weitgereister Mann, und bald fand Lockhart den Grund heraus. Miss Deyntry hatte recht gehabt. Grosvenor K. Boscombe war Bergbauingenieur gewesen, ein Beruf, der ihn auf der Suche nach Edelmetallen, Erdöl, Gas und Kohle, eigentlich nach allem, was die Jahrtausende überlagert hatten und moderne Bergbaumethoden auffinden konnten, rund um den Globus führte. Er war wohl ein sehr erfolgreicher Bergbauingenieur gewesen. In seinem letzten Brief aus Dry Bones, Arizona, in dem er seine Eheschließung mit einer Miss Phoebe Tarrent bekanntgab, deutete er an, daß er auf Erdgas gestoßen sei. Doch ganz gleich, welche Erfolge er in seinem Beruf erzielt haben mochte, ein begnadeter Briefeschreiber war Grosvenor K. Boscombe nicht gerade. Keine Spur von der Leidenschaft oder den Gefühlen, die Lockhart erwartet hatte, und ganz gewiß kein Hinweis darauf, daß Mr. Boscombe irgend etwas unternommen hatte, um sich als Lockharts langgesuchter Vater zu erweisen. Mr. Boscombe konzentrierte sich auf die Berufsrisiken seines Gewerbes und erwähnte seine Langeweile. In Jahre auseinanderliegenden Briefen schilderte er Sonnenuntergänge über der namibischen, saudiarabischen und libyschen Wüste sowie der Wüste Sahara in beinahe gleichlautenden Worten. Als er sich endlich durch sämtliche Briefe gequält hatte, hatte Lockhart die meisten bedeutenderen Wüsten der Welt brieflich durchquert, ein anstrengender Prozeß, den Mr. Boscombes Unvermögen,
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