Familienpakt: Kriminalroman (German Edition)
musste seine Fantasie bemühen, um sich das von Jasmin Stahl entwickelte Szenario vergegenwärtigen zu können: Demnach hatte Wollschläger den Mord an Narkosearzt Beierlein schon vor seinem Messerüberfall auf die Krankenschwester vorbereitet. Er hatte die Apparatur, die Beierlein als Anästhesist einsetzte, wahrscheinlich kurz vor dem Amoklauf präpariert und brauchte danach nur noch abzuwarten, bis Beierlein seine Geräte für die nächste OP einschaltete. Ein heimtückischer, besonders niederträchtiger Mordanschlag, bei dem Wollschläger willentlich in Kauf genommen hatte, dass der Stromschlag auch einen anderen, unbeteiligten Menschen hätte treffen können.
»Ich habe bereits veranlasst, dass die Spurensicherer den defekten Apparat nun auch gezielt nach Wollschlägers Fingerabdrücken absuchen«, sagte Kommissarin Stahl und fragte mit erwartungsvollem Gesicht: »Was halten Sie von meiner Vermutung?«
»Starker Tobak, werte Kollegin, aber durchaus vorstellbar. Wenn es zutrifft, was Sie glauben, würde es auch erklären, warum sich Wollschläger bei seiner Messerstecherei mit nur einem Opfer zufriedengegeben hat. Denn er verließ sich auf die Wirksamkeit seiner Stromfalle.« Keller nahm sein Jackett von der Stuhllehne und zog es über. »Es gibt nur einen Weg, den Sachverhalt schnell zu klären: Ich werde mir Wollschläger noch einmal vornehmen.« Er sah sie etwas betreten an, als er ergänzte: »Nachdem er inzwischen in die Untersuchungshaft überführt worden ist, wird die Sache allerdings etwas komplizierter. Ich muss rüber ins Gefängnis an der Mannertstraße fahren.« Bereits im Gehen, bat er Jasmin Stahl darum, ihren Verdacht vorerst für sich zu behalten. »Vor allem Schnelleisen soll davon noch nichts wissen«, schärfte er ihr ein. »Der macht sonst bloß die Pferde scheu.«
Dienstwaffe, Autoschlüssel, Handy und sogar seinen Hosengürtel ließ Keller an der Pforte zurück und folgte einem wortkargen Justizbeamten über den schneebedeckten Innenhof der Justizvollzugsanstalt, einem heruntergekommenen Klinkerbau, der Trostlosigkeit und Trübsinn ausstrahlte. In einem der ziegelroten Trakte, die den Eindruck von Kasernengebäuden mit vergitterten Fenstern vermittelten, saß Wollschläger ein. Keller sah ihn bereits vor seinem geistigen Auge: schmal und unscheinbar, mit grauer Gesichtsfarbe und dem gebrochenen Blick eines um sein Kind trauernden Vaters. Doch Keller würde sich nicht von Mitleid und anderen ablenkenden Emotionen in seiner Absicht beirren lassen, dem Tatverdächtigen auf den Zahn zu fühlen und einem knallharten Verhör zu unterziehen.
Als sie den Zellenblock erreichten, fand Keller den Untersuchungshäftling mit genau der Körperhaltung und Gemütsverfassung vor, wie er es sich ausgemalt hatte. Nur saß Wollschläger nicht auf der Pritsche in seiner Zelle, sondern im Besucherraum – und ihm gegenüber ein klein gewachsener, fettleibiger Herr im dunkelblauen Anzug und dazu passender Krawatte.
»Dr. Raabe?«, fragte Keller überrascht.
Der Mann hob seinen Kopf und gab damit den Blick auf ein mehrfach gefaltetes Doppelkinn frei. »Herr Wollschläger hat bislang keinen Anwalt zu Rate gezogen. Ich übernehme die Pflichtverteidigung.«
Keller schüttelte dem beleibten Anwalt dessen schweißfeuchte Hand und nahm neben ihm Platz. »Im Mordfall haben sich neue Anhaltspunkte ergeben«, wollte Keller dann gleich zur Sache kommen und bemerkte schon beim Sprechen seinen Fehler. Zu spät.
»Moment, Moment«, ermahnte ihn Dr. Raabe. »Von einem Mord zu sprechen ist verfrüht und unangemessen. Wie Sie bereits wissen, befand sich mein Mandant zum Zeitpunkt des Vorfalls in einem psychisch äußerst angespannten Zustand. Nach alldem, was ich über die Hintergründe dieses Falls bisher weiß, gehe ich wohl nicht zu weit, wenn ich eine Kurzschlusshandlung mit mindernder Schuldfähigkeit zugrunde lege.«
»Kurzschlusshandlung ist ein gutes Stichwort«, griff Keller den Faden auf und entschied sich dafür, aufs Ganze zu gehen: Er berichtete von dem zweiten Todesfall im Südklinikum und legte die Theorie dar, die Kommissarin Stahl entwickelt hatte.
Der Anwalt gab sich über diese Enthüllung bass erstaunt und wechselte einen nervösen Blick mit seinem Mandanten. Wollschläger selbst wirkte teilnahmslos, doch kam es Keller so vor, als wäre ein winziges Lächeln über seine fahlen Lippen gehuscht, als Keller den Tod des Narkosearztes erwähnte.
»Haben Sie Beweise? Fingerabdrücke?«, erkundigte sich
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