Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
Dämmerung eingesetzt, dunkle Schatten zogen die Felswände hinauf und die Farbe des Asphalts bekam einen lila Stich.
Wir gelangten zu einem winzigen Ort namens Garstatt, aber was mich vom Namen her an Bangkoks Straßenküchen erinnerte, war bloß eine lose Ansammlung von knapp einem Dutzend Häusern, die meisten mit dem typischen weiß verputzten Unterbau, während der obere Teil aus dunklem Holz bestand. Ich bemerkte die scharfe Abbiegung erst, als wir beinahe daran vorbeigefahren waren. Augenblicklich trat ich auf die Bremse, riss das Steuer herum und verließ die Hauptstraße.
»Was ist denn jetzt los?«, fauchte Miranda, nachdem sie und ihre Frisur wieder aufrecht saßen.
»Wir lassen die beiden vorbei und suchen uns hier in der Nähe eine Unterkunft. Bis nach Gstaad können wir unseren Vorsprung unmöglich beibehalten.«
Ich schaltete die Scheinwerfer aus, manövrierte den Wagen in einen schmalen Durchgang hinein und parkte dann rückwärts in der schattigen Auffahrt zwischen zwei Wohnhäusern. Von hier aus hatten wir einen prima Ausblick auf die Straße, ohne dass wir entdeckt werden konnten.
Meine beiden Begleiterinnen ließen die Mundwinkel hängen und gaben schmollende Geräusche von sich, sodass ich schnell anfügte: »Aber morgen früh fahren wir hin! Ihr geht flanieren, shoppen oder spürt Roger Moore auf, ich bringe derweil diesen unmöglichen Fall zu Ende.«
Es klang so simpel, dass es mir eigentlich auf der Stelle hätte auffallen müssen.
Nachdem Raffi und Kamil an uns vorbeigebraust waren, lenkte ich den Wagen auf die Hauptstraße und fuhr bis zum nächsten richtigen Dorf zurück. Ich hatte nicht einmal eine Zahnbürste dabei und zweifelte am Serviceangebot der Gasthöfe in der Gegend. In Reidenbach fanden wir endlich ein Geschäft, das mit Eisenwaren und Lebensmittel angeschrieben war und damit einen bedenklichen Einblick in die Einkaufsprioritäten der Einheimischen gewährte. Der Verkäuferin klappte der Unterkiefer herunter, als Miranda den Laden betrat, und ihr Mund blieb auch offen stehen, während meine transsexuelle Freundin alles zusammensuchte, was sie für eine Nacht auf dem Land zu benötigen glaubte. Glücklicherweise gab es eine Ecke mit Toilettenartikeln. Leider waren Deodorants für Männer gerade aus oder ohnehin nicht im Sortiment, sodass ich gezwungen war, zum einzigen Eau de Toilette zu greifen, das erhältlich war: Blue Water von Davidoff.
»Wir essen im Hotel, nicht?«, fragte Joana mit einem kritischen Blick auf das kulinarische Angebot, das sinnvoll sein mochte, wenn ein Atomkrieg drohte und man sich ein paar Monate mit unverderblichen Nahrungsmitteln einbunkern wollte, aber nicht, wenn man ein exquisites Picknick plante. Miranda und ich stimmten denn auch synchron zu, derweil wir unsere Einkäufe auf dem Tresen aufreihten.
»Ich bezahl alles zusammen, Schätzchen«, säuselte Miranda zur Verkäuferin und schob ihr mit der Fingerspitze sanft die Kinnlade wieder zu.
»Die hat mich angesehen, als wäre ich eine Außerirdische«, gab sie sich erstaunt, während wir zum Wagen schlenderten.
»Das bist du für sie auch! In dieser Gegend gibt’s Männer und Frauen, basta. Nichts dazwischen.«
»Sie hatte dunkle Haare auf der Oberlippe und ein paar blonde am Kinn, ich hab’s genau gesehen!«
»Das zählt hier nicht!«
»Sie trug Latzhosen!«
»Wahrscheinlich der letzte Schrei in Reidenbach.«
»Und mit ihren kräftigen Oberarmen hätte sie einen Ochsen erwürgen können!«
»Die Arbeit auf dem Feld.«
»Sie arbeitet in einem Eisenwarengeschäft!«
»Sie war trotzdem eine Frau!«
»Wenn du dich da bloß nicht irrst.«
»Tu ich nicht. Wahrscheinlich wird sie noch ihren Urenkeln von deinem Besuch erzählen.«
Miranda kicherte, doch Joana blieb ernst und schien das nicht ansatzweise lustig zu finden. Mir war aufgefallen, dass sie sich um eine aufgeschlossene Haltung bemühte, doch hin und wieder sackte sie ganz kurz in sich zusammen, als müsste sie neue Kraft schöpfen. Die Situation mit ihrem Erzeuger schien sie mehr zu belasten, als sie zeigte.
»Ich verhungere!«, jammerte Miranda, als wir meinen Käfer beinahe erreicht hatten. Ich hatte ihn hinter einer Scheune geparkt, damit er von der Straße aus nicht zu sehen war, falls unsere Verfolger zurückkehrten.
»Da vorn ist mir beim Vorbeifahren ein Restaurant aufgefallen«, erinnerte ich mich. »Sah gemütlich aus.«
»Diese Holzhütte?«
»Chalet sagt man hier«, berichtigte ich Joana. »Und es ist leider
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