Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
schon beim Öffnen der Türen empfing uns anhaltendes Rauschen. Nach wenigen Schritten erreichten wir den schmalen Übergang aus Aluminium.
»Ich komm da unter keinen Umständen mit!«, verkündete Miranda strikt, nachdem sie einen kurzen Blick auf den Boden des Stegs geworfen und sich schaudernd abgewandt hatte. Dieser bestand aus aneinandergefügten Gitterplatten und bot freie Sicht nach unten auf das steinige Flussbett.
Sie zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich gegen einen Baumstamm, während Joana und ich uns am Geländer festklammernd bis zur Mitte der Brücke hangelten. Man musste tatsächlich schwindelfrei sein, wenn man ausgerechnet hier das Ufer wechseln wollte, ich schätzte die Fallhöhe auf etwa dreißig Meter, vielleicht sogar mehr. Doch das spektakuläre Panorama entschädigte für den ausgestandenen Bammel. Zur einen Seite erstreckten sich mit Bäumen dicht bewachsene Abhänge und steil abfallende Felsvorsprünge, zwischen denen die Kander rauschend und gurgelnd zum Thunersee hin verschwand. Wandte man sich um, hatte man einen unverstellten Ausblick auf den Niesen, der im Abendlicht golden leuchtete.
»Ziemlich effizient, sich hier runterzustürzen«, bemerkte Joana. »Das überlebst du unter keinen Umständen.«
Im Stillen gab ich ihr recht, doch noch immer zweifelte ich an Grüningers Selbstmord. Dass ihn Sánchez’ Handlanger runtergeworfen hatten, war mir bei Weitem einleuchtender. Mein Gefühl, dass hier etwas überhaupt nicht passte, meldete sich vehement zurück.
Nachdenklich startete ich den Wagen und fuhr zurück zur Stelle, wo wir abgebogen waren. Die Straße schlängelte sich durch den schattigen Bereich am Fuß der Bergmassive und mündete dann in der Enge des Tals. Zu beiden Seiten erhob sich hügeliges Weideland, das immer wieder von Nadelwald durchzogen war. Die an den Hängen klebenden Kühe und Ziegen wirkten aus der Ferne wie Spielzeugtierchen, hingeduckt die Scheunen und Ställe. Dahinter erhoben sich majestätische Bergspitzen, deren Schnee die letzten Sonnenstrahlen reflektierte.
Als wir die erste Anhöhe erreicht hatten, wagte ich einen Blick zurück. Und erschrak. Der silberfarbene Audi durchquerte soeben die vom Fluss geteilte Ebene, die wir vor wenigen Minuten hinter uns gelassen hatten. Wir hatten zwar etwas Vorsprung, doch angesichts der gemütlich schaukelnden Wohnwagenkarawane aus Holland direkt vor uns, würde dieser rasch schrumpfen. Die Flachländler reagierten mit einem verhaltenen Fahrstil auf die für sie ungewohnt enge und kurvenreiche Straße und trieben mich damit beinahe zur Verzweiflung. Schon sah ich den Audi die Steigung heraufpreschen.
Ungeduldig harrte ich auf den nächsten geraden Straßenabschnitt und setzte dann zu einem gewagten Überholmanöver an. Doch die Strecke war so kurz, dass ich gerade mal einen einzigen Wohnwagen hinter mir lassen konnte. Als sich nach einer scharfen Kurve eine weitere Möglichkeit bot, passierte ich den nächsten Wagen mit Campinganhänger. So machte ich weiter, bis ich an der Spitze der Karawane angelangt war. Endlich konnte ich ungehindert beschleunigen, doch als ich in den Rückspiegel blickte, wurde mir klar, dass der Audi spielend aufholte.
»Schneller!«, spornte mich Miranda an, doch Geschwindigkeit allein würde uns nicht retten. Gegen den brandneuen Wagen hatte meine alte Schrottkarre nicht den Hauch einer Chance. Dennoch holte ich alles aus dem Käfer raus. Wir flogen förmlich über die Landstraße, und in einem Dorf namens Weissenburg schleuderte uns die Schwerkraft beinahe von der Fahrbahn, so eng schlossen die Kurven aneinander an.
Vor uns tauchten weitere Wohnwagen mit holländischen Nummernschildern auf, wahrscheinlich hatten im Norden bereits die Sommerferien begonnen. Ich schwenkte auf die Gegenspur und drückte das Gaspedal durch, erst da bemerkte ich die mir entgegenkommende Lastwagenkolonne.
»Pass auf!«, schrie Miranda auf dem Rücksitz, doch kaltblütig zog ich an einem Feriencamper nach dem anderen vorbei, ohne dabei die auf uns zurasenden Laster aus den Augen zu lassen. Erst im letzten Moment kehrte ich auf die rechte Straßenseite zurück und der Käfer schwankte ein wenig im Fahrtwind der vorbeibrausenden Vierzigtonner.
»Hast du einen Knall?«, entrüstete sich Miranda, derweil ich im Rückspiegel mit Genugtuung beobachtete, wie der Audi ebenfalls versuchte, die Wohnwagenkolonne zu überholen, aber von den herannahenden Lastern daran gehindert wurde.
Mittlerweile hatte die
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