Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
Kreise über den Tannenwipfeln, auf der anderen Talseite trieb ein Bauer seine Kühe mit lauten Rufen in den Stall. Ich legte die Hand auf das sonnenwarme Holz und zog das Gatter auf, als ich wie vom Blitz getroffen stehen blieb. Der Moment, wo sich im Bruchteil einer Sekunde alle Teile des Puzzles zusammenfügen und die Welt ringsherum für einen kurzen Augenblick heller wird. Schlagartig wurde mir alles klar.
Es war nicht nur das Blut, das nicht ins Bild passte. Dass sich Grüninger beim Hinaufsteigen aufs Brückengeländer verletzt hatte, war zwar möglich, wahrscheinlich war es jedoch nicht, es bestand aus Aluminium. Vielmehr vermutete ich, dass jemand absichtlich sein Blut dorthin geschmiert hatte, damit jeder Zweifel, dass tatsächlich er es gewesen war, der sich von der Brücke gestürzt hatte, aus dem Weg geräumt war.
Völlig unvorstellbar war aber, dass Grüninger über den Gitterboden, der freie Sicht auf das dreißig Meter tiefer gelegene Flussbett bot, bis zur Mitte des Stegs gelaufen war. Selbst Joana und mir war mulmig geworden, aber erst jetzt war mir eingefallen, was Oberschwester Maria beim Betrachten des Ausflugsfotos aus Turin beiläufig erwähnt hatte: Grüninger litt an vehementer Höhenangst!
Das war es, was mich die ganze Zeit gestört hatte: Der Ort des vermeintlichen Suizids hatte wie inszeniert gewirkt. Die Leiche, die nie gefunden wurde, war nur die logische Konsequenz dieser Finte.
Was, hatte Christoph Berger gesagt, war das Allerschlimmste für einen Vater? Sein eigenes Kind aus der Ferne aufwachsen zu sehen! Zu wissen, dass man ganz nah dran wäre, aber doch für immer getrennt bleibt.
Endlich ergab alles einen Sinn.
Ich drehte mich um und rannte zurück.
»Sie sind doch schlauer, als ich gedacht habe.« Ruth Berger kam mir entgegengeschlurft, als ich um die Ecke schoss.
»Was haben Sie ihm angetan?«
»Wollen Sie ihn sehen? Es geht ihm nicht besonders gut.«
»Er leidet an Alzheimer!«
Sie blieb dicht vor mir stehen und ein angedeutetes Lächeln schlich sich in ihre verhärmten Gesichtszüge. »Ist das nicht pure Ironie? Der Täter, der sich als Einziger wirklich an nichts erinnern kann?«
Sie stieß die angelehnte Tür zur Hütte auf und ließ mich eintreten. Ein kleiner, dämmriger Raum, der aufgeräumt und heimelig wirkte, an den Fenstern ein Esstisch mit Eckbank und zwei Stühlen, eine Gaslampe hing von der Decke. Gegenüber befand sich die Kochnische mit einem wuchtigen Holzherd aus Gusseisen, einigen Regalen mit Gewürzen darüber, dem Abwaschtrog und hellblau bemalten Schränken an der Wand.
Ruth Berger schloss eine Tür auf, die seitlich von der Küche wegführte.
Ich erkannte den Mann, der auf der Kante des Sofas saß und sich sanft vor- und zurückwiegte, nur mit Mühe. Grüningers Gesicht war wie leer gewischt, die einzige Emotion, die darauf noch auszumachen war, war eine leichte Verwunderung, als könnte er selbst nicht fassen, was mit ihm geschehen war. Er schien ganz in sich versunken, sein Blick zielte ins Leere, und als ich im Türrahmen stehen blieb, runzelte er die Augenbrauen, bevor er sich ganz langsam nach mir umwandte.
»Ich hatte keine Ahnung, dass er krank war«, erklärte Frau Berger leise, derweil sie ihm ein gestricktes Jäckchen anzog. »Ich wollte Rache. Ich wollte, dass er selbst erlebt, was er mir und so vielen anderen angetan hat.«
»Deswegen haben Sie als Erstes seinen Suizid inszeniert.«
»Ein klarer Schlussstrich, so würde man keinesfalls hier oben nach ihm suchen. Ich dachte, ich hätte alles perfekt geplant: die Brücke, das Blut am Geländer, der Wagen.«
»Mit einem kleinen Schönheitsfehler: Grüninger hat Höhenangst und wäre nie und nimmer bis zur Mitte des Stegs gekommen, wo später sein Blut klebte.«
»Ich habe das erst im Verlauf der Zeit herausgefunden. Aber wie es scheint, hat bis auf Sie niemand die offensichtliche Schwachstelle meiner Planung bemerkt …«
»Andrea Tschanz muss es gewusst haben.«
Frau Berger blähte die Backen und machte eine abschätzige Handbewegung. »Ohne es zu wissen, war sie die perfekte Verbündete. Der Tod ihres Mannes kam ihr gerade recht, denn sie hatte bereits eine Affäre mit dem Russen laufen und machte der Polizei nur die Angaben, die unbedingt nötig waren.«
Wahrscheinlich hatte sich die Tschanz gedacht, dass sich Sánchez am Ende doch an seinem ehemaligen Partner gerächt hatte, und die Polizei nicht über die Höhenphobie ihres Mannes informiert, damit die Untersuchungen
Weitere Kostenlose Bücher