Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
mehr verband außer der Leere, die Noemi hinterlassen hatte«, fuhr Ruth Berger fort. »Als Christoph vor Erschöpfung zusammenbrach und die ganze Zeit zu Hause war, wurde uns bewusst, dass es aus war. Ich kann ihn nicht mehr sehen, er erinnert mich an Schmerz und Wut, immerzu sehe ich unsere Tochter in ihm.«
»Hat er Ihnen erzählt, dass er Noemi gefunden hat?«
»Nein.« Lange starrte sie vor sich hin. »Er hat mich angerufen, als er Grüninger ausfindig gemacht hatte. Aber das mit Noemi wusste ich nicht.«
»Sie lebt bei einer Familie in der Nähe von Zürich. Ihr Mann hat sich aber nicht getraut, sie zu kontaktieren, daher ahnt Noemi nichts …«
»Er wusste ganz genau, dass ich nicht gut für das Kind gewesen wäre!«, unterbrach mich Frau Berger heftig, als hätte sie ihre Überlegungen erst jetzt abgeschlossen und gar nicht mitbekommen, was ich eben gesagt hatte. »Deshalb hat er mich nicht eingeweiht. Ich hätte nicht klein beigegeben und mein Recht eingefordert, hätte dafür gekämpft, selbst wenn es nicht zu Noemis Bestem gewesen wäre.« Sie hielt inne und fuhr sich über die Augen.
»Ich weiß aber, dass Noemi Sie unbedingt kennenlernen möchte. Sie will wissen, wer ihre leiblichen Eltern sind.«
»Wie gesagt, man kann die Zeit nicht zurückdrehen, man kann niemals aufholen, was man verpasst hat.«
Ich zündete mir eine Zigarette an und steckte das Päckchen zurück in meine Hosentasche.
»Wie sind Sie eigentlich an Grüningers Hütte gekommen?«
»Wie gesagt, hat mein Mann Tschanz, wie er sich in der Schweiz nannte, nach all den Jahren in Bern aufgespürt. Ich habe ihn dann später hier in Gstaad besucht, da waren Christoph und ich längst getrennt. Tschanz wollte das Häuschen ohnehin loswerden und mir schien es der ideale Ort, um mein Leben weiterzuführen. Doch mit der Suche nach meiner Tochter konnte er mir leider nicht weiterhelfen, denn ausgerechnet Noemis Akte war unauffindbar.«
Weil sie Christoph Berger bereits in Bern entwendet hatte, aber das wusste seine Frau offenbar nicht.
»Grüninger hat Ihnen einfach so Auskunft gegeben?«, wunderte ich mich dennoch. Laut Ruth Bergers Ausführungen schien alles reibungslos abgelaufen zu sein, was ich mir irgendwie nicht so recht vorstellen konnte. Ich war sicher, dass sie mir nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte.
»Ich kann sehr überzeugend sein, wenn es erforderlich ist«, erklärte sie knapp.
»Einen Tag nach dem Verkauf der Hütte war er tot. Selbstmord, angeblich. Haben Sie ihn von der Brücke gestürzt?«
»Sehe ich aus wie eine Frau, die einen erwachsenen Mann über ein Geländer hieven könnte?«
Mit einem vagen Gesichtsausdruck hob ich die Schultern.
»Glauben Sie mir, ich habe ihn nicht getötet. Er muss seinen Abgang längst geplant haben, vielleicht hat er mir deswegen die Hütte überlassen.«
Also war es doch Suizid, wie Andrea Tschanz gesagt hatte. Eine Moment lang herrschte Stille, nur der Wind war zu hören, der leise durch die Äste der Tanne strich.
»Aber diese Ordner, waren sie hier in der Hütte?«, hakte ich nach. »Diejenigen mit den Akten der geraubten Kinder?«
Ruth Berger nickte zögernd. »Nur habe ich sie nach Grüningers Selbstmord alle verbrannt. Ich habe nächtelang darüber wach gelegen, aber am Ende hielt ich es für besser so. Die Unterlagen beinhalten nur Unglück. Für die verzweifelten Eltern, die ein halbes Leben ohne ihre Kinder gelebt haben. Selbst wenn sie diese finden – sie können ihnen doch nie Mutter und Vater sein, dazu sind zu viele wertvolle Jahre verstrichen. Für die Adoptiveltern, die oft nichts von der Herkunft ihrer Zöglinge wissen und aus allen Wolken fallen. Und nicht zuletzt für die Kinder selbst, deren Leben in den Grundfesten erschüttert wird und denen der Hort der Geborgenheit, das Fundament ihres Daseins plötzlich wegbricht: die Familie.« Umständlich kramte sie ein fleckiges Taschentuch hervor und schnäuzte sich.
»Was soll ich Noemi nun sagen?«, fragte ich erneut.
Sie dachte nach und meinte dann bedrückt: »Sagen Sie ihr, ihre Mutter sei tot. Denn das bin ich, innerlich. Schon seit Jahren.«
»Wie Sie meinen.« Was die beiden Ärzte nach Noemis Geburt behauptet hatten, war auf tragische Weise wahr geworden. Geräuschlos erhob ich mich und ließ die alte Frau auf der Holzbank zurück. Der Hund schlief immer noch, als ich an der Hütte vorbeikam, und zuckte unruhig im Traum.
Ich ging den staubigen Weg entlang auf das Tor zu. Ein Raubvogel zog geduldig seine
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